Nora Roberts
musste.
Geduldig
wartete Slade ab. Aus fünf endlosen Minuten wurden zehn. Allmählich trocknete
der kalte Schweiß auf seinem Rücken.
Da keiner der Männer sich lautlos vorwärtsbewegen konnte, blieben beide, wo
sie waren und belagerten einander. Ein Vogel, der aufgeflogen war, als Slade in
den Wald stürmte, kehrte auf seinen Ast zurück und begann fröhlich ein Lied zu
zwitschern. Keine fünf Schritte von Slade entfernt hamsterte ein Eichhörnchen
Bucheckern. Slade schaltete seine Gedanken ab und wartete. Die Sturmwolken
kamen bedrohlich näher, schoben sich vor die Sonne und verdunkelten den
Himmel. Es wurde kalt in dem Wäldchen. Der Wind fuhr ihm unter das nicht
zugeknöpfte Hemd.
Dann
plötzlich ein unterdrücktes Niesen und das Rascheln von Laub. Im gleichen
Augenblick hechtete Slade auf das Geräusch zu, warf sich auf den Boden und
rollte vorwärts, nachdem er einen kurzen Blick auf den Mann und das Gewehr erhascht
hatte. Flach auf dem Bauch liegend feuerte er drei Mal.
Gelähmt von einer Angst, die eisiger war
als der scharfe Wind, der über den Sound fegte, kauerte Jessica hinter dem
Felsen. Der Wind und das Donnern der Brandung waren die einzigen Geräusche, die
sie vernahm. Früher einmal hatte sie das Rauschen des Meeres geliebt, das
Heulen des Windes, das dumpfe Aufschlagen der Wellen an den Felsen. Über ihr
brauten sich schwarze Gewitterwolken zusammen. Mit einer Hand hielt sie Slades
Jackett umklammert. Das Leder war weich und kalt, aber es verströmte seinen
Geruch. Und darauf konzentrierte sie sich. Solange sie ihn riechen konnte, war
er noch am Leben. Wenn sie nur lange genug und fest genug daran glaubte, würde
ihm nichts passieren.
Zu
lange!, brüllte
ihre innere Stimme. Es dauerte schon zu lange. Ihre Finger klammerten sich
fester um das Leder. Er hat gesagt, dass er zurückkommt. Und daran würde sie
nicht zweifeln. Mit zitternden Fingern berührte sie ihre Lippen, die eiskalt
waren. Die Wärme, die er darauf hinterlassen hatte, hatte sich schon längst
verflüchtigt.
Ich hätte
ihm sagen sollen, dass ich ihn liebe, dachte sie in einem Anflug von
Verzweiflung. Ja, das hätte ich ihm sagen sollen, bevor er sich da hinausgewagt
hatte. Was ist, wenn er nicht ... Nein, das durfte sie nicht einmal denken. Er
kommt zurück, betete sie sich immer wieder vor. Ein Schmerz durchzuckte ihren
verkrampften Körper, als sie ein wenig zur Seite rutschte, um die Strandtreppe
beobachten zu können.
Als sie die
drei Schüsse hörte, hielt sie automatisch die Luft an. Erst das Ziehen in der
Brust löste ihre Starre. Ihre Lungen schrien nach Luft. Jessica befahl sich,
erst einmal tief durchzuatmen, ehe sie sich hochrappelte und losrannte. Zwei
Mal stolperte sie auf der Treppe, verlor aber nicht das Gleichgewicht, sondern
zwang sich, noch schneller zu laufen. Sie stürzte in das Wäldchen und geriet
auf dem trockenen Laub und den abgebrochenen Ästen ins Rutschen.
Slade
wirbelte in dem Moment herum, als er sie hörte. Er war schnell, aber nicht
schnell genug, um zu verhindern, dass sie sah, was er sie nicht hatte sehen
lassen wollen. Taumelnd stürzte sich Jessica in seine Arme. Unendlich
erleichtert, erstarrte sie Sekunden später im Schock und begann dann zu
zittern wie Espenlaub.
Fluchend
stellte er sich vor sie, um ihre Sicht zu blockieren. »Kannst du nicht einmal
gehorchen?«, knurrte er und zog sie dann an
sich.
»Ist er ...
hast du ihn ...« Unfähig, die Frage auszusprechen, die ihr auf den Lippen
brannte, schloss sie die Augen. Sie würde nicht in Ohnmacht fallen. Einer
seiner Hemdknöpfe drückte sich in ihre Wange und lenkte sie ein wenig ab.
»Bist du verletzt?«
»Nein«,
erwiderte er knapp. Dieser Aspekt seines Lebens hätte sie nie beunruhigen
dürfen, schalt er sich. Dafür hätte er sorgen müssen. »Warum bist du nicht am
Strand geblieben?«
»Ich habe
die Schüsse gehört und dachte, er hätte dich umgebracht.«
»In dem
Fall hätte es uns beiden viel geholfen, hierher zu rennen.« Er schon sie auf
Armlänge von sich weg, musterte sie und zog sie wieder an sich. »Keine Angst,
es ist alles in Ordnung.«
Zum ersten
Mal war sein Ton freundlich, beinahe liebevoll. Und das warf sie derart aus der
Bahn, wie es weder sein Fluchen noch einer seiner Wutanfälle je vermocht
hätten. Die Tränen brachen aus ihr heraus und sie begann zu weinen, von heftigen
Schluchzern geschüttelt, die eine Hand in sein Hemd verkrallt, mit der anderen
noch immer seine Lederjacke umklammernd.
Ohne ein
Wort
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