Nora Roberts
führte er sie an den Rand des Wäldchens. Dort setzte er sich ins Gras, zog
sie auf seinen Schoß und ließ sie sich
ausweinen. Nicht wissend, was er sonst tun sollte, wiegte er sie in den Armen
wie ein kleines Kind, streichelte ihren Rücken und murmelte ihr beruhigende
Worte ins Ohr.
»Es tut mir
Leid«, sagte sie nach einer Weile mit tränenerstickter Stimme. »Ich kann nicht
aufhören.«
»Wein alles
heraus, Jess.« Seine Lippen berührten ihre heißen Schläfen. »Diesmal musst du
nicht stark sein.«
Das Gesicht
an seiner Brust vergraben, ließ sie ihren Tränen freien Lauf, bis sie keine
mehr hatte. Auch als ihr Schluchzen verstummt war, streichelte er sie weiter
und hielt sie fest umarmt. Das Bedürfnis, sie zu beschützen, war schon längst
kein professionelles mehr. Er wusste zwar nicht, wie er es anstellen konnte,
aber am liebsten hätte er diesen Morgen aus ihrem Gedächtnis getilgt – hätte
sie irgendwohin mitgenommen, fort von diesem Ort, wo nichts Hässliches sie
ängstigen konnte.
»Ich konnte
einfach nicht mehr unten am Strand bleiben, nachdem ich die Schüsse gehört
hatte.«
»Nein.« Er
küsste sie aufs Haar. »Das glaube ich dir.«
»Ich
dachte, du seist tot.«
»Sch.« Er
küsste ihre Lippen mit einer Zärtlichkeit, die weder sie noch er jemals für
möglich gehalten hätte. »Du solltest mehr Vertrauen in die > guten Jungs < haben.«
Sie wollte
ihn anlächeln, doch stattdessen schlang sie die Arme um seinen Nacken – eine
weitere Bestätigung für sie, dass er heil und unverletzt war. »Oh, Slade, ich
glaube nicht, dass ich so etwas noch einmal durchstehen würde. Warum? Warum
will mich jemand umbringen? Ich verstehe das alles nicht.«
Er schob
sie ein wenig von sich weg, damit sie sich in die Augen sehen konnten. Die
ihren waren rot und verquollen, seine kühl und direkt. »Vielleicht weißt du
etwas und bist dir dessen gar nicht bewusst. Die Sache steht Spitz auf Kopf,
und wer immer in dieser Geschichte die Fäden zieht, weiß das. Du bist ein
Risikofaktor geworden.«
»Aber ich weiß doch überhaupt nichts!«, beharrte sie und presste die Handballen gegen die
Schläfen. »Irgendjemand will mich umbringen, und ich weiß weder, wer noch
warum. Du hast gesagt, dass ... dass der Mann ein Profi ist. Jemand bezahlt ihn
dafür, dass er mich umbringt.«
»Komm, lass
uns ins Haus gehen.« Er zog sie auf die Füße, doch sie riss sich los. Das
hilflose Weinen war vorüber, und die Stärke hatte wieder die Oberhand gewonnen,
wenn diese sich auch nahe am Rand der Hysterie bewegte.
»Wie viel
bin ich ihm wert?«, wollte sie wissen.
»Das reicht
jetzt, Jess.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schüttelte sie
einmal kurz durch. »Schluss jetzt. Du gehst jetzt ins Haus und packst eine
Tasche. Ich nehme dich mit nach New York.«
»Ich gehe
nirgendwohin.«
»Das
glaubst aber nur du«, murmelte er und zerrte sie in Richtung Haus.
Jessica
riss sich zum zweiten Mal von ihm los. »Jetzt hör mir mal gut zu. Das ist mein Leben, mein Laden, meine Freunde. Und ich werde hier bleiben, bis das
alles vorbei ist. Ich werde bis zu einem gewissen Punkt auf dich hören, Slade,
aber ich werde nicht davonlaufen.«
Er musterte
sie mit einem langen Blick. »Ich muss noch schnell telefonieren und meinen
Bericht durchgeben. Du gehst inzwischen auf dein Zimmer und wartest dort auf
mich.«
Sie nickte,
ohne seinem schnellen Einverständnis zu trauen. Er nickte und traute dem ihren
ebenfalls nicht.
Kaum hatte Jessica ihre Zimmertür hinter
sich zugemacht, begann sie sich die Kleider vom Leib zu reißen. Plötzlich war
es für sie von einer ungeheuren Wichtigkeit, jedes Sandkorn abzukratzen, jede
noch so kleinste Spur dieser schrecklichen Stunde, die sie eben am Strand
verbracht hatte. Sie drehte den Heißwasserhahn auf und ließ die Badewanne
einlaufen, bis das Badezimmer sich in eine dampfende Waschküche verwandelt hatte.
Sie ließ sich in die Wanne gleiten und schnappte keuchend nach Luft, als das
heiße Wasser ihren eiskalten Körper umfing. Doch dann griff sie gleich zu Seife
und Waschlappen und schrubbte sich gründlich ab, bis sie den salzigen Duft des
Meeres nicht mehr riechen konnte – und den Geruch ihrer Angst.
Die
Geschehnisse am Strand waren ein Albtraum gewesen, redete sie sich ein. Das
hier war die Wirklichkeit. Die grünen Kacheln an der Wand, der Farn auf dem
Fensterbrett, die cremefarbenen Handtücher mit der hellgrünen Bordüre, die sie
selbst vor einem Monat erst ausgesucht
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