Nora Roberts
zweite Tür. Darauf war ein Zettel angebracht, auf dem zu
lesen stand:
Nehmen
Sie zwei Aspirin und verschwinden Sie.
Seth
machte sich gar
nicht erst die Mühe zu klopfen, sondern öffnete sofort die Tür. Im Licht, das
sich vom Flur aus in das Zimmer ergoss, konnte Seth erkennen, dass die
Verdunklungsvorhänge vor dem Fenster sorgfältig zugezogen waren. Das Zimmer
selbst war kaum größer als ein Kleiderschrank und bestand zum größten Teil aus
einem Bett.
Will lag
auf dem Rücken, die Arme links und rechts neben dem Körper ausgestreckt, und
schnarchte. Es sah aus, als sei er in dieser Position aufs Bett gefallen und
hätte sich seither nicht mehr bewegt. Er trug Boxershorts mit der Cartoonfigur
Marvin, dem Marsianer, und an einem Fuß eine Socke.
»Das sollte
man jetzt fotografieren«, murmelte Dan. »Hör zu, Seth, es ist seit zwei Wochen
seine erste Chance, einmal acht Stunden an einem Stück zu schlafen. Er hatte
sich mit Aubrey getroffen und ist erst kurz nach zwei nach Hause gekommen. Er
war kaum bei Bewusstsein, als er zur Tür hereinkam.«
»Es ist
wichtig.«
»Ach,
verflixt noch mal. Also schön.« Dan ging zum Fenster hinüber. »Er wird bestimmt
nur unverständliches Zeug faseln.« Mit diesen Worten riss er gnadenlos die Vorhänge
zur Seite.
Das helle
Morgenlicht ergoss sich über das Bett. Will rührte keinen Muskel. Seth beugte
sich über das Bett und rüttelte seinen Freund an der Schulter. »Wach schon
auf.«
»Hibbida gehssu.«
»Hab ich
dir ja gleich gesagt.« Dan trat auf das Bett zu. »So macht man das.« Er legte
seinen Mund an Wills Ohr und brüllte: »Alarm? Alarm! Dr. McLean bitte sofort
ins Untersuchungszimmer drei? Herzstillstand?«
»Wassa?«
Will schnellte in eine sitzende Position hoch, als sei sein Oberkörper von
einem Bogen abgeschossen worden. »Sofort das Reanimationsgerät! Wo ist ...« Ein
Teil seines Gehirns schien langsam seine Funktion aufzunehmen, als er in Seths
Gesicht blinzelte. »Oh Scheiße.« Er wollte sich gerade wieder in die Kissen
zurückfallen lassen, als Seth seinen Arm packte.
»Ich muss
mit dir reden.«
»Hast du
innere Blutungen?«
»Nein.«
»Die wirst
du aber gleich bekommen, wenn du nicht sofort von hier verschwindest und mich
schlafen lässt.« Will zog ein Kissen unter seinem Kopf hervor und legte es sich
aufs Gesicht. »Da sieht man einen Kerl jahrelang nicht, und dann wird man ihn
einfach nicht mehr wieder los. Verzieh dich und nimm diesen Trottel mit, der
einmal mein Bruder gewesen ist.«
»Du warst
doch gestern in Drus Laden.«
»Ich fange
gleich an zu heulen.«
»Will?«
Seth riss das Kissen weg. »Die Frau, die im Laden war, als du hereinkamst – du
hast doch gesagt, sie wäre dir bekannt vorgekommen.«
»Im
Augenblick würde ich nicht mal meine eigene Mutter erkennen. Wer bist du
überhaupt, und was tust du in meinem Zimmer? Ich werde die Polizei rufen.«
»Erzähl
mir, wie sie ausgesehen hat.«
»Wenn ich
es dir sage, gehst du dann?«
»Ja. Bitte,
jetzt mach schon?«
»Oh Gott,
lass mich nachdenken.« Will gähnte ausgiebig und rieb sich mit den Händen über
das Gesicht. Dann schnupperte er. »Kaffee!« Seine Augen begannen herumzuwandern,
bis sie auf Dans Tasse verharrten. »Gib mir den Kaffee.«
»Der gehört
mir, du Blödmann.«
»Gib mir
sofort den Kaffee, sonst erzähle ich Mom, dass du findest, ihr Hintern sehe in
dem gelben Kleid fett aus. Und dann wirst du deines Lebens nicht mehr froh, das
kannst du mir glauben.«
»Jetzt gib
ihm schon den verdammten Kaffe&«, fuhr Seth Dan an.
Dan gab
nach und reichte seinem Bruder die Tasse.
Will nahm
einen großen Schluck, dann noch einen. Seth hätte es nicht überrascht, wenn er
seinen Kopf in die riesige Tasse gesteckt und den Kaffee mit der Zunge aufgeschleckt
hätte. »Also schön, wie war noch mal die Frage?«
Seth ballte
unwillkürlich die Hände zu Fäusten, aber er beherrschte sich. »Es geht um die
Frau, die du in Drus Laden gesehen hast.«
»Ach ja,
richtig.« Will gähnte wieder und versuchte sich zu konzentrieren. »Irgendetwas
an ihr kam mir merkwürdig vor. Sie war angezogen, als würde sie in Baltimore
auf den Strich gehen. Nicht etwa, dass ich mich da auskennen würde«, fügte er
mit einem engelsgleichen Lächeln hinzu. »Bleich, knochig, blond. Was mein Dad
als leicht verlebt bezeichnen würde. Ohne sie untersucht zu haben lautet meine
Diagnose: schwerer Alkoholmissbrauch und auch Partydrogen nicht abgeneigt. Ihre
Haut hat eine ungesunde Färbung.
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