Nora Roberts
die Macht der Liebe unermesslich war. Sie war imstande, Habgier,
Kleinlichkeit, Hass und Neid zu überwinden. Sie vermochte ein Leben zu
verändern.
Er hatte es
am eigenen Leib erfahren.
Er glaubte
an die Macht der Liebe, ob sie sich in Leidenschaft oder Selbstlosigkeit, in
Wut oder in Zärtlichkeit äußerte.
Aber die
Liebe selbst war selten einfach. Es waren all ihre Facetten, ihre
Vielschichtigkeit, die ihr ihre Macht verliehen.
Und da er
Dru liebte, musste er sich wohl oder übel an den Gedanken gewöhnen, ihr alles
zu erzählen. Er war nicht mit zehn Jahren geboren worden. Sie hatte ein Recht darauf,
alles über seine Herkunft zu erfahren. Er musste einen Weg finden, ihr von
seiner Kindheit zu erzählen. Von Gloria.
Aber er
wollte nichts überstürzen. Er fand immer neue Entschuldigungen: Er redete sich
ein, dass er es verdient hatte, die Gefühle, die sie füreinander empfanden und
die noch so neu für sie beide waren, auszukosten. Er wollte, dass sie seine
Familie besser kennen lernte und vertrauter mit ihr wurde. Er musste das Bild
unbedingt fertig malen. Er wollte einen guten Teil seiner Zeit in den Bau ihres
Bootes stecken, sodass es, wenn es fertig war, irgendwie ihnen beiden gehörte.
Schließlich
gab es ja auch keinen Grund, etwas zu überstürzen. Tage wurden zu Wochen, ohne
dass Gloria sich noch einmal meldete. Und so redete Seth sich ein, dass sie
wieder verschwunden war. Und vielleicht würde sie ja dieses Mal für immer
wegbleiben.
Er begann
mit sich selbst zu handeln, nahm sich vor, erst nach dem Nationalfeiertag am
vierten Juli wieder über alles nachzudenken. An diesem Tag veranstalteten die
Quinns jedes Jahr ein großes Picknick, zu dem alle eingeladen waren –
Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn. Sie alle trafen sich in dem weißen
Haus, wie sie es schon zu Lebzeiten von Ray und Stella getan hatten, um zu
essen und zu trinken, über den neuesten Klatsch zu reden, im kühlen Wasser des
Meeresarms zu schwimmen und sich das Feuerwerk anzusehen.
Aber bevor
sie Bier und Krabben genießen durften, mussten Dru und Seth erst einmal
Champagner und Kaviar über sich ergehen lassen. Drus Eltern hatten ihr so lange
zugesetzt, bis sie sich schließlich widerstrebend bereit erklärt hatte, in
Begleitung von Seth an einer der zahlreichen in Washington stattfindenden
Galaveranstaltungen teilzunehmen.
»Sieh mal
einer an.« Cam stand im Türrahmen von Seths Zimmer und pfiff anerkennend durch
die Zähne, als er seinen kleinen Bruder in einem Smoking sah. »Der Kleine hat
sich für die hohen Herrschaften als Pinguin verkleidet.«
»Ach, du
bist ja nur neidisch, weil du selbst gern so gut aussehen würdest.« Seth schloss
seine Manschettenknöpfe. »Ich habe das Gefühl, dass Drus Eltern mich bei dieser
kleinen Soiree zur Schau stellen wollen. Ich hätte beinahe statt des Smokings
einen Umhang und eine Baskenmütze gekauft, um dem Klischee des Künstlers auch
gerecht zu werden. Aber ich konnte mich gerade noch einmal zurückhalten.«
Er begann
an der Krawatte herumzuzerren. »Diese ganze Aufmachung war Phils Idee.
Angeblich klassisch, ohne konservativ zu wirken.«
»Er muss es
ja wissen. Oh Gott, jetzt hör schon auf, da so herumzupfuschen.« Cam stieß sich
vom Türrahmen ab und durchquerte das Zimmer, um Seth bei dem Krawattenknoten
zu helfen. »Du bist ja nervöser als eine Jungfrau vor dem Schulabschlussball.«
»Schon
möglich. Ich werde ja auch heute Abend von Leuten umgeben sein, die in Geld
schwimmen. Da will ich nicht absaufen.«
Cam blickte
ihm in die Augen. »Geld bedeutet doch einen Dreck. Du bist so gut wie jeder
Einzelne von denen, wahrscheinlich sogar besser als die meisten. Wir Quinns
müssen uns vor niemandem verstecken.«
»Ich möchte
Dru heiraten, Cam.«
Cams Magen
zog sich ein wenig zusammen. Die Reise vorn Jungen zum Mann dauert nie so
lange, wie sie eigentlich sollte, dachte er. »Hm. Verstehe.«
»Wenn man
jemanden heiratet, bekommt man die Familie und all den Ballast gleich mit
dazu.«
»Das ist
richtig.«
»Ich muss
mit ihrer Familie klarkommen und sie mit meiner. Wenn ich den heutigen Abend
überstanden und sie den Irrsinn hinter sich gebracht hat, der hier am vierten
Juli toben wird, dann ... werde ich ihr von früher erzählen müssen. Von
Gloria. Und dieses Mal eine ganze Menge mehr als ich bisher habe verlauten
lassen. Ich werde ihr alles anvertrauen.«
»Und jetzt
fragst du dich vermutlich, ob sie daraufhin davonlaufen wird. Glaub mir, wenn
sie es täte, wäre
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