Noras Erziehung
vernünftiger Grund, ihn zu bitten, mich zurück nach St. Boniface anstatt in ein gemeinsames Bett zu bringen. Ich gähnte bedeutungsvoll.
«Das war sehr nett. Aber der Service war wirklich extrem lahm. Ich bin müde.»
Er antwortete nicht, sondern ließ meine Hand los und legte mir seinen Arm um die Taille. Ich dachte an die sechs noch sehr sichtbaren Striemen, die mein Hinterteil zierten und die mich eindeutig als James’ Mädchen kennzeichneten. Ein gemeinsames Bett kam also nicht in Frage. Höchstens noch ein bisschen beiläufige Konversation, die hoffentlich jede schmutzige Absicht im Keim ersticken würde.
«Gehst du am Samstag auf die Gartenparty von St. Mary’s?»
«Nein, da kann ich nicht.»
Der verlegene Klang in seiner Stimme machte mich neugierig.
«Wieso denn nicht?»
«Äh, da ist das Dinner der Hawkubites.»
«Ach so.»
Ich ärgerte mich nicht mal mehr, denn meine Empörung über das kindische Benehmen seiner Truppe war ziemlich verflogen. Außerdem hieß sein Termin für mich, dass ich so viel Zeit vom Wochenende für James und Violet abzwacken konnte, wie es meine Vorbereitungen für die Zwischenprüfung eben zuließen. Als wir die Queen’s Lane erreichten, machte er Anstalten, mich in Richtung Emmanuel zu führen. Doch ich wollte nicht.
«Ich bin zu müde, Stephen. Bring mich bitte einfach zurück zum College.»
«Oh, bitte, Nora. Es gibt da etwas Wichtiges, was ich dir sagen muss.»
«Kannst du das nicht auch hier sagen?»
«Nein, nicht so gut. Es ist nichts Schlimmes. Ich wollte dich nur an einen ganz besonderen Ort führen.»
Sein beinahe bettelnder Ton ließ einen schrecklichen Verdacht in mir aufsteigen. Ich versuchte noch, einen Witz daraus zu machen. «An einen ganz besonderen Ort? So wie dein Zimmer in Emmanuel?»
«Dort ist doch eine Menge passiert. Also ist es auch ein besonderer Ort für uns, oder nicht?»
Seine defensive Reaktion weckte nicht nur Schuldgefühle in mir, sondern sorgte auch für einen gewissen Ärger. Ich wollte weg, kam mir aber gleichzeitig schrecklich gemeinvor. Schließlich war ich mir mittlerweile fast sicher, was er mir sagen wollte. Wir wurden immer langsamer, bis Stephen schließlich ganz stehen blieb.
«Nein, du hast recht. Und wir können ja jederzeit hierher zurückkommen.»
Ich war auch stehen geblieben, völlig ahnungslos, was ich jetzt sagen sollte. Wir standen beide still da. Das Mondlicht fiel auf die Seufzerbrücke und warf schwache Schatten auf den Boden. Noch nie war der Name dieser Brücke mir so passend erschienen, und als Stephen schließlich in seine Tasche griff, hatte ich so einen dicken Kloß im Hals, dass ich kaum noch ein Wort hervorbringen konnte.
«Stephen, ich …»
Er war vor mir auf die Knie gegangen und hielt mir eine kleine schwarze Schachtel entgegen. Als er den Deckel öffnete, verschlug es mir völlig die Sprache. Eigentlich wollte ich ihm sagen, dass ich über ihn und Giles Bescheid wusste, dass ich nicht viel besser als er selbst war und dass ich ihn nicht liebte – alles, um ihm Einhalt zu gebieten. Aber die Worte wollten einfach nicht über meine Lippen kommen. Stattdessen fing ich an zu weinen, als ich den Ring sah. Es war ein schmaler Reif aus Weißgold mit einem eingefassten Diamanten, der das Licht des Mondes und einer entfernten Straßenlaterne reflektierte.
Irgendwann sagte er es schließlich: «Nora Miller, möchtest du meine Frau werden?»
Ich konnte immer noch nicht antworten und war einfach nicht in der Lage, seinen Antrag anzunehmen. Verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten, um ihn abzuweisen, ohne ihm dabei wehzutun. Gleichzeitig wusste ich, dass das einfach nicht möglich war. Ich wollte weglaufen. Ich wollte, dass die Erde sich auftäte und mich verschluckte.Alles hätte ich getan, um diesen Moment weiter hinauszuzögern. Aber es dauerte nicht lange, bis er fortfuhr: «Bitte, Nora! Ich verspreche, ich werde dir alles sein. Alles, was du brauchst.»
Er ergriff meine Hand und schob mir den Ring auf den Finger.
17
Ich war verlobt – oder eben auch nicht. Zumindest dachten alle, dass ich es wäre. Stephen gab sich alles andere als verschwiegen, und die Neuigkeiten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer innerhalb der Rudermannschaften und über Giles auch im Studentenparlament. Ich hatte meinen panischen Versuch einer Erklärung gegenüber Violet gerade abgeschlossen, als bereits die ersten Gratulanten an meine Tür klopften. Und als ich an diesem Abend zu einer Debatte im
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