Noras Erziehung
Studentenparlament erschien, war ein großes Transparent aufgehängt worden, auf dem in hellroten, fast einen Meter großen Buchstaben «Alles Gute, Honora und Stephen» stand. Giles war der Einzige, der meinen vollen Namen verwendete – abgesehen von meinen Eltern, die mich immer dann Honora nannten, wenn ich etwas angestellt hatte. Ich wusste also genau, dass er dahintersteckte. Und er war es auch, der grinsend auf mich zukam, als ich mit offenem Mund dastand.
«Herzlichen Glückwunsch! Ich hab ihm ja gesagt, dass du den Antrag annehmen würdest.»
«Du wusstest, dass er mir einen Antrag machen würde?»
«Natürlich. Der junge Mitchell fragt mich immer um Rat. Und ich bin selbstverständlich auch der Trauzeuge.»
«O Gott!»
Er lachte, schlug mir auf den Rücken und setzte sich dann an seinen Platz, um die Debatte weiterzuführen. Ich hatte die letzten Stunden in der Bodleian-Bibliothekverbracht, um zu lernen – oder eher, um mich zu verstecken –, und war daher ziemlich spät dran. Es war die letzte Debatte während Giles’ Amtszeit als Präsident, und es gab nur noch Stehplätze. Daher war ich sehr froh über den reservierten Platz, der mir als Protokollführerin zustand. Giles hatte ein sehr cleveres Thema für seine letzte Debatte gewählt: «Diese Kammer glaubt, dass die Universität von Oxford wieder zu voller Unabhängigkeit zurückkehren sollte». Seine Forderung sorgte für eine handfeste Kontroverse, die seinen Gegner zwang, die Haltung der Regierung einzunehmen, was ihm sofort eine immense Unbeliebtheit einbrachte.
Ich beobachtete das Ganze mit großem Interesse. Nach der Abstimmung kristallisierte sich schnell eine überwältigende Mehrheit für Giles’ Antrag heraus, und ich war mir sicher, dass man ihn mit großem Abstand wiederwählen würde. Wie so oft war auch James anwesend, Violet jedoch fehlte. Als ich meine offizielle Arbeit erledigt hatte, ging ich sofort zu ihm. Er diskutierte gerade mit einer Gruppe Studenten, aber ich musste ihn unbedingt sprechen, um ihm die Situation hoffentlich irgendwie erklären zu können.
Als ich mich ihm näherte, wurde ich sofort von jemandem aus der Gruppe angesprochen. «Herzlichen Glückwunsch, Nora! Das sind ja wunderbare Neuigkeiten! War die Debatte heute Abend nicht einfach phantastisch?»
«Ja. Und der gute Giles wird daraus ganz sicher seinen Vorteil ziehen.»
«So ist er nun mal. Aber im nächsten Trimester wirst du ja bestimmt gegen ihn antreten.»
«Könnte sein. Man wird sehen. Hallo, James.»
Er lächelte mich an, aber mehr auch nicht. Eine Zeitlang unterhielten wir uns als Gruppe, während ich immer wiedernervös nach Stephen Ausschau hielt. Und noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich ihm sagen sollte. Gestern Abend hatte mich nur das Vortäuschen von Müdigkeit gerettet, aber schließlich konnte ich mich nicht für immer vor ihm verstecken. Doch glücklicherweise schien er heute nicht hier zu sein, und auch Giles war nirgendwo zu sehen. Das gab mir Gelegenheit, James eine ganz und gar freche Frage zu stellen – auch wenn ich ihn wegen der anderen Anwesenden natürlich siezte.
«Ob Sie mich wohl mitnehmen könnten?»
Keiner aus der kleinen Gruppe wusste, dass ich auf dem Gelände wohnte. Er schon. Und so war er sich durchaus bewusst, dass ich vorschlug, mit zu ihm zu fahren.
«Aber natürlich. Entschuldigen Sie mich.»
Wir bahnten uns einen Weg durch den überfüllten Saal des Studentenparlaments. Es war ein warmer Abend und der Garten voller Menschen. Auch Giles war dort und hielt gerade vor einem der Gastredner und einem Dutzend anderer Leute Hof.
Er schien mich nicht mal zu bemerken, sodass wir das Tor schon bald unbemerkt hinter uns lassen und zum Cornmarket gehen konnten, wo James sein Auto geparkt hatte.
Ich kam mir vor, als hätte ich einen überaus gewagten Fluchtversuch erfolgreich hinter mich gebracht, und konnte nicht widerstehen, in einer der ruhigeren Straße seine Hand zu nehmen. Er drückte meine Finger kurz, ließ sie dann aber los, um von seinem Handy aus Violet anzurufen. Nachdem wir sie abgeholt hatten, fuhren wir zu dritt zu seinem Haus und schmiedeten den ganzen Weg über angeregt Pläne für unseren Sommer.
Alles schien so natürlich – als wäre die Beziehung zwischen uns dreien genauso normal wie jede andere auch.James bewirtete uns mit Salat und Schinken, während Violet eine Flasche Wein öffnete. Wir aßen, tranken und scherzten. Nach einer Weile fingen wir an, uns zu küssen und
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