Noras Erziehung
er sehr höflich und freundlich. Die anderen beiden Sprecher waren ebenfalls weibliche Studenten, nur dass sie schon im dritten und nicht im ersten Trimester waren. Nachdem er uns einander vorgestellt und man ein wenig geplaudert hatte, kam er schließlich zur Sache.
«Kennen Sie alle Giles Lancaster?»
Wir nickten synchron.
«Dann wissen Sie sicher auch, welchen Standpunkt er vertreten wird. Brot und Spiele, um die Masse ruhig zu halten, während die Verbrechen, die man mit Prostitutionassoziiert, durch das Eingreifen privater Firmen eliminiert werden. Und das heißt in diesem Fall Ausschaltung von Menschenhändlern, Zuhältern und anderen absolut unangenehmen Menschen. Diese Idee ist überaus populär. Er hat im letzten Quartal bei der Debatte zur Legalisierung von Drogen so ziemlich dieselben Argumente gebracht. Komali und Susan erinnern sich bestimmt noch daran, denn ihre Seite hat damals gewonnen. Ich habe da ein paar Ideen, wie wir seinen Ansatz torpedieren können. Aber erst möchte ich noch Ihre Gedanken zu dem Thema hören. Nora?»
«Äh … Okay. Mein Hauptargument besteht darin, dass staatlich kontrollierte Bordelle das Konzept von Sex als Ware legitimieren.»
«Und das sehen Sie als etwas Schlechtes an?»
«Ja. Sex sollte doch wohl eine Erfahrung zwischen zwei mündigen Bürgern sein, die sich lieben, oder?»
«Okay. Ich habe eine Frage an Sie. Würden Sie zustimmen, dass auch ein behinderter Mensch, vielleicht jemand in einem Rollstuhl, einen Sexualtrieb hat?»
«Ja, natürlich.»
«Und dass dieser Mensch ein Recht hat, seiner Sexualität auch Ausdruck zu verleihen?»
«Ja.»
«Gut. Dann gehen wir mal einen Schritt weiter. Er oder sie ist außerdem hässlich und im sozialen Umgang äußerst ungeschickt. Wie soll dieser Mensch nun einen beziehungsbereiten Partner finden, der ihn liebt?»
«Partnervermittlungen oder vielleicht irgendwas online?»
«Glauben Sie wirklich, das funktioniert?»
«In einigen Fällen sicher schon. Okay, vielleicht nicht so oft.»
«So gut wie nie, würde ich sagen. Realistisch gesehen, besteht in so einem Fall die einzige Chance auf Sex darin, dafür zu bezahlen.»
«Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Aber das klingt, als würden Sie für die Gegenseite argumentieren.»
«Ganz und gar nicht. Mein Ansatz sieht Prostitution als eine Profession, die durchaus ihre Berechtigung hat. Aber das impliziert in keiner Weise, dass sie ausschließlich vom Staat kontrolliert werden sollte.»
«Okay. Tut mir leid. Das war offensichtlich kein so guter Gedanke.»
«Doch, doch. Ich spiele hier ja nur den Anwalt des Teufels. Es könnte nämlich sehr gut sein, dass die Gegenseite dasselbe Argument bringt.»
«Und was, meinen Sie, sollte ich dann erwidern?»
«Ihr Argument ist gerechtfertigt, muss aber noch modifiziert werden, und ich möchte außerdem, dass wir vier alle das gleiche Gesangbuch unter dem Arm haben. Ein Punkt, der unsere Position stützt – und den Giles sicher auch selbst ansprechen würde, stünde er auf unserer Seite –, ist der Kapitalismus. Wieso, erklärt sich wohl von selbst.»
Er sah uns eine nach der anderen an, und ich war sehr froh, dass ich nicht die Einzige war, die ihn verständnislos anschaute. Nachdem meine eigene Idee so schnell in der Luft zerfetzt worden war, wollte ich mich nicht schon wieder zu Wort melden. Stattdessen wagte sich Susan vor.
«Wie meinen Sie das?»
«Das eigentliche Argument geht dahin, dass Prostitution wie jedes andere Gewerbe auch legal sein sollte und so betrieben werden muss, dass sie Profit abwirft. Gleichzeitig sollte sie aber auch so reguliert sein, dass einemMissbrauch vorgebeugt wird. Der Grundsatz, dass jedes staatlich kontrollierte System sich unausweichlich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einpendelt, zieht einen unmotivierten Service, niedrige Gehälter für die Produzenten – in diesem Fall die Mädchen, die die tatsächliche Arbeit leisten – und ein unausgewogenes Management nach sich.»
«Ist das nicht eigentlich eine neoliberale Theorie?»
«In der Tat. Deshalb soll Giles ja auch glauben, dass dies das wichtigste Glied unserer Argumentationskette ist. In Wirklichkeit habe ich allerdings vor, die sozialen Nachteile staatlicher Kontrolle in den Vordergrund zu stellen: staatliche Einmischung, Datenabschöpfung und deren potenzieller Missbrauch, schlechter Service und so weiter. Aktuelle Dinge, mit denen die Zuhörer etwas anfangen können und uns die Debatte hoffentlich gewinnen lassen.
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