Noras Erziehung
die Tür zu meinem Zimmer zu öffnen. Sie war abgeschlossen. Genau wie gestern Abend, als ich nach Hause gekommen war. Einen furchtbaren Moment lang blieb ich wie angewurzelt stehen und war sicher, dass alle dreizehn Mädchen sich denken konnten, weshalb die Tür noch abgesperrt war. Doch in letzter Sekunde fiel mir eine Ausrede ein.
«So ein Mist! Ich hab mich ausgesperrt!»
«Ich laufe runter zur Pförtnerloge», meldete sich eine Stimme aus der Truppe.
Nachdem das Mädchen losgegangen war, konnte ich nichts anderes tun, als dazustehen und etwas dümmlich zu grinsen. Hoffentlich bemerkte niemand, dass ich Violets Bademantel anhatte. Als der Portier nicht allzu begeistert die Treppe hochgestapft kam und mich mit demHauptschlüssel in mein eigenes Zimmer ließ, musste ich danach die Eichentür schließen, um unbeobachtet meinen Schlüssel aus Violets Zimmer holen zu können. Sie fand das Ganze unheimlich witzig – bis sie meinen besorgten Blick bemerkte.
«Reg dich nicht so auf, Nora. Du hast nichts Schlimmes getan. Außerdem glaube ich nicht, dass die irgendwas geschnallt haben.»
Auch wenn sie geflüstert hatte, ich legte den Finger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Ein Großteil der Mannschaft stand noch immer draußen vor der Tür, und als wir vom College losjoggten, versuchte ich, jeden Augenkontakt zu vermeiden. Niemand sagte etwas. Und als wir wieder zurückkamen, hatte ich mich irgendwie davon überzeugt, dass niemand von ihnen etwas bemerkt hatte. Schließlich wussten alle, dass ich mit Stephen zusammen war, und keins der Mädchen hatte mich tatsächlich aus Violets Zimmer kommen sehen. Trotzdem war ich immer noch wütend auf mich, nicht vorsichtiger gewesen zu sein.
Nachdem ich geduscht und mich erneut umgezogen hatte, fand ich beim Pförtner eine Nachricht in meinem Postfach. Sie stammte von der Schriftführerin einer Vereinigung, die sich für die Menschenrechte in Lateinamerika einsetzte. Sie machte sich große Sorgen um Suarez, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit ihr in Verbindung zu setzen. Sie hatte vorgeschlagen, sich im Fachschaftsraum vom St. Mary’s College zu treffen. Nachdem ich mir auf dem Weg dorthin noch schnell einen süßen Snack im
Queen’s Lane Coffee House
geholt hatte, sah ich mich im Fachschaftsraum einem halben Dutzend ihrer Leute gegenüber, die alle entschlossen waren, ihre Meinung zu dem Besuch von Suarez kundzutun. Zwei Stunden dauerte es, bisich sie davon überzeugt hatte, dass sie Suarez ihre Meinung nur dann sagen konnten, wenn sie ihn vorher sprechen lassen würden.
Dann überließ ich sie ihrem Gespräch über mögliche Plakatentwürfe und machte mich auf den Rückweg nach St. Boniface. Trotz einem gewissen Gefühl von Müdigkeit und Erschöpfung war ich durchaus zufrieden mit mir. Als ich beim Pförtner erneut nach Post fragte, fand ich gleich zwei Nachrichten vor. Eine von Giles, der wissen wollte, weshalb ich nicht im Studentenparlament war, und die andere von Dr. Etheridge, der mich bat, meine Seminararbeit auszubauen, um Churchills Einfluss nach seiner letzten Amtszeit als Premierminister zu berücksichtigen. Das hieß drei Stunden Recherche und zwei weitere Stunden Schreibarbeit. Stephen konnte ich an diesem Abend also nicht treffen – besonders dann nicht, wenn ich Giles unterstützen wollte.
Auf dem Weg zum Studentenparlament hatte ich das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen, verlor mich dann aber schnell in der Arbeit. Ich kümmerte mich um Pressemitteilungen und führte diverse Telefonate, um eine größtmögliche und vor allem positive Berichterstattung sicherzustellen. Was die Publicity anging, hatte Giles völlig recht gehabt. Es dauerte nicht lange, und ich bekam die ersten Rückrufe. Einige waren durchaus kritisch, andere wiederum positiv. Aber die meisten wollten einfach mehr Informationen haben. Um die Mittagszeit bekam ich schreckliche Kopfschmerzen, und der Computerbildschirm verschwamm vor meinen Augen. Zeit für eine Pause.
Draußen hatten sich bereits ein paar Leute versammelt, die alle mit mir sprechen wollten, um meine Meinung vielleicht doch noch zu ändern. Wäre Suarez zu diesem Zeitpunktaufgetaucht, ich hätte ihn ohne weiteres erwürgen können. Stattdessen tat ich mein Bestes, die Leute mit dem Argument zu beruhigen, das ich bereits heute Morgen vorgebracht hatte. Auf dem Weg in die Bodleian-Bibliothek versuchte ich, meine Müdigkeit mit einem Sandwich aus dem Supermarkt zu vertreiben. Dabei
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