Noras Erziehung
keine Ahnung, was Redefreiheit wirklich bedeutet. Würdest du ein bisschen auf Lucy aufpassen, solange ich weg bin, Nora? Ich hoffe, es dauert nicht allzu lange.»
Ich setzte mich und entschuldigte mich sofort in Giles’ Namen. «Ich fürchte, das passiert andauernd. Aber lass dich davon nicht abschrecken. Ihr zwei seid zusammen, oder? Entschuldige, ich möchte nicht neugierig sein, aber …»
«Schon okay. Ja, ich nehme an, irgendwie sind wir zusammen.»
«Da hast du echt einen Treffer gelandet. Alle Mädchen mögen Giles. Ich natürlich nicht. Ich bin nämlich mit seinem besten Freund Stephen zusammen. Wir vier müssen irgendwann mal zusammen ausgehen.»
«Das wäre sehr schön. Danke», erwiderte sie nicht gerade enthusiastisch.
«Nein, wirklich. Ich komme nächste Woche mal in dein College und kümmere mich darum, wenn du willst. Wenn wir das nämlich den Jungs überlassen, passiert nie etwas. Wieso habe ich dich hier eigentlich noch nie gesehen? Bist du Mitglied im Studentenparlament?»
«Nein, hier nicht. Aber ich bin im Studentenwerk. Außer im Schachclub und in der Pi-Vereinigung bin ich eigentlich ziemlich viel für mich. Giles ist wirklich lieb, nicht wahr?»
Ich hatte recht gehabt. Sie war durch und durch Mathematikerin. Brillant, aber vollkommen naiv. Kein Mädchen hätte Giles als «lieb» beschrieben. Und schon gar nicht, wenn sie bereits mit ihm im Bett gewesen wäre. Und das hatte sie vermutlich schon hinter sich. Zwar war ich mir nicht wirklich sicher, worauf er eigentlich stand, aber die Dinge, die er zwischendurch immer mal wieder von sich gegeben hatte, und auch die Erzählungen von Stephen ließen eigentlich nur den Schluss zu, dass er total versaut im Bett war. Glücklicherweise hatte ich mich mittlerweile zu einer recht geschickten Lügnerin entwickelt.
«Ja, er ist reizend. Wie habt ihr euch denn kennengelernt?»
«Er kam einfach auf mein Zimmer und hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will. Ich war völlig überrascht, denn er hatte bisher kein Wort mit mir gewechselt. Er ist der attraktivste Mann im ganzen College, und ich sehe ihn immer nur mit den hübschesten Mädchen.»
Die Versuchung einer Bemerkung, dass Giles sich auch durchaus mit hübschen Männern zeigte, war sehr groß, aber ich behielt meine Gedanken für mich. Stattdessen fingen wir an, über das Universitätsleben zu plaudern, und je mehr ich sie aus der Reserve lockte, desto mehr überraschte es mich, dass Giles auf sie stand. Lucy war recht schüchtern, ausgesprochen introvertiert und hatte die Gesamtschule in Südlondon mit Bestnoten abgeschlossen. Mit anderen Worten, sie passte so gar nicht in seine Welt – abgesehen davon, dass beide das St. Mary’s College besuchten. Außerdem stand er auf Jungs, und sie war auf geradezu überbordende Weise weiblich. Was mir bei ihr allerdings ebenfalls auffiel, war eine gewisse Bereitschaft, Dummheiten zu machen, und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie sich im Bett vollkommen gehenließ. Wahrscheinlich wirkte sie deshalb auch so anziehend auf Giles.
Es dauerte nicht lange, und Giles kehrte an den Tisch zurück. Er gab sich immer noch alle Mühe, möglichst nonchalant zu wirken, war aber eindeutig wütend. «Es ist unglaublich. Ich habe versucht, dem elenden Kerl zu erklären, dass ich mit den Sprechern, die ich einlade, nicht unbedingt einer Meinung bin, aber er wollte nicht auf mich hören. Wenn wir Suarez sprechen lassen, legt seine Bande von Faulenzern die Arbeit nieder. Nicht, dass wir das merken würden, aber zusätzlich wird mindestens die Hälfte der Roten in der Uni Streikposten an den Eingängen aufstellen.»
«Wirst du die Sache absagen?»
«Auf keinen Fall! Denk doch nur mal an die Publicity, du dummes Ding. Das schafft es bis in die Nachrichten. Aber es muss vorher eine Abstimmung geben. Und das heißt Arbeit. Tut mir leid, Lucy, aber Nora und ich müssenmindestens zweihundert Leute davon überzeugen, dass Redefreiheit wichtiger ist als persönliche politische Ansichten.»
«Kann ich euch irgendwie helfen?»
«Nur, indem du zurück ins College gehst, dir ein großes Glas deines Lieblingsgetränks eingießt und dich in mein Bett legst.»
Lucys Reaktion war ein Kichern. Der Vorschlag schien sie trotz ihrer offensichtlichen Schüchternheit nicht sonderlich verlegen zu machen. Giles gab ihr seinen Zimmerschlüssel und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, der von echter Zuneigung zu sprechen schien. Lucy drehte sich noch zweimal um,
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