Noras großer Traum (German Edition)
hatte er nicht mit diesem Ausmaß an Hunger, Krankheit, Leid und kriegerischen Auseinandersetzungen in den grenzüberschreitenden Gebieten gerechnet. Tatsächlich kam er kaum zur Besinnung, arbeitete beinahe rund um die Uhr und kämpfte verbissen gegen den größten Feind eines jeden Arztes, den Tod. Und doch hatte er ihn in seinen beiden Jahren in Äthiopien tausendfach hinnehmen müssen. Jedes einzelne Mal hatte ihn das Gefühl der Ohnmacht getroffen. Er litt darunter, so hart wie noch nie zuvor in seinem Leben zu arbeiten, und doch so wenig tun zu können. Er hatte den unbändigen Wunsch, etwas für diese Menschen zu erreichen, etwas zu verbessern. Es erschien ihm einfach unfassbar, dass sich, nur einige Flugstunden entfernt, Menschen mit dem Gedanken beschäftigten, ob sie mittags Nudeln oder doch lieber Kartoffeln zubereiten sollten. Es kam ihm schlichtweg grotesk vor.
Jedes Mal, wenn er eines der fast verhungerten Kinder zur Behandlung auf den Arm nahm, musste er gegen die Fassungslosigkeit ankämpfen, die sich in ihm breit zu machen drohte. Auch wenn er schon Bilder dieser Kinder gesehen hatte, war es etwas völlig anderes, diese bis auf die Knochen abgemagerten Àrmchen zu berühren, die riesigen Augen in den seltsam erwachsenen Gesichtern zu sehen, die keine Freude oder Fröhlichkeit kennen gelernt zu haben schienen. Immer wenn er eines dieser ihm anvertrauten Kinder verlor, hatte er das Gefühl, versagt zu haben. Es gelang ihm nicht, wie vielen seiner Kollegen, abzuschalten. Auch wehrte er sich dagegen, abzustumpfen. Er magerte selbst ab, denn er mochte sich nicht satt essen, solange die Menschen um ihn herum verhungerten oder aufgrund ihrer Schwäche an den einfachsten Infektionen starben. Er arbeitete, kämpfte und litt unsagbar. Nach zweiundzwanzig Monaten spürte er, dass er die Grenze dessen, was er ertragen konnte, erreicht hatte. Als er weitere zwei Monate später nach Australien zurückkehrte, wusste er nicht, wohin. Er fühlte sich physisch und psychisch nicht in der Lage, irgendwo einfach seinen Dienst anzutreten. Er hatte gegen Albträume und furchtbare Erinnerungen zu kämpfen und das Gefühl, sich in seiner Heimat nicht mehr zurechtzufinden. Selbst den Gedanken an Cameron Downs, wo er sich vor dem Scheitern seiner Ehe zu Hause gefühlt hatte, verwarf er wieder. Er hätte den alten Freunden so nicht begegnen mögen, ihre Fragen nicht beantworten wollen. Sie würden nicht begreifen können, was er erlebt hatte. Alles, was er im Moment von sich geben würde, müsste – angesichts ihrer unbekümmerten Wohlstandsgesellschaft – irgendwie vorwurfsvoll klingen. Er war einfach noch nicht so weit. Er spürte, dass er sich selbst irgendwo in Afrika aus den Augen verloren hatte. Seine Empfindungen gingen sogar so weit, dass er sich die Frage stellte, ob er nicht das Recht verloren hatte, jemals wieder als Arzt tätig sein zu dürfen. Er tat das, wofür er sich in seinem bisherigen Leben noch nie die Zeit genommen hatte. Er suchte die Einsamkeit und machte sich auf die Reise durch das Land. Tom zuckte zusammen, als jemand an die Tür seines Büros klopfte. Als er sich umwandte, sah ihm sein Freund und Kollege Dr. William Jarrett lächelnd entgegen und wedelte mit einigen Röntgenaufnahmen in der Luft, während er das Licht anknipste und die Bilder in der dafür vorgesehenen Klemmschiene befestigte. Tom hatte Schwierigkeiten, sich von den Erinnerungen loszureißen. Bill hatte die Brille aus der Brusttasche genommen, sie aufgesetzt und studierte nun eingehend die Röntgenaufnahmen. Tom ging zu ihm und warf ebenfalls einen Blick darauf.
»Ach, sind das schon die Bilder der kleinen Laura McKenzie? Das ging aber schnell. Wie sieht es aus?«
Bill trat beiseite. »Schau selbst. Ich meine, sie hat Glück gehabt. Einige Tage Ruhe, und sie ist wieder wie neu.«
Tom hatte sich ebenfalls einen Eindruck verschafft und nickte nun. »Du hast Recht. Schön. Die Mutter hat sich schon große Sorgen gemacht. Ich gehe sofort rüber und sage ihr Bescheid.«
»Okay, Tom, wir sehen uns dann morgen. Ich habe gleich Dienstschluss.« Er schmunzelte und strich sich über den gepflegten Vollbart, bevor er hinzufügte: »Und meine Lisa auch.«
Tom sah auf die Uhr und nickte ihm zu. »Na, da wünsche ich euch beiden aber einen schönen Abend. Bis morgen.«
Auf dem Weg zur Kinderstation streiften seine Gedanken noch einmal die Vergangenheit. Als er den blanken Krankenhausflur entlangging, den sauberen, sterilen Geruch wahrnahm,
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