Noras großer Traum (German Edition)
ihrem entsetzten Blick gefolgt, und lachend fragte er: »Soll ich das Essen für dich retten, oder willst du diese echten australischen Ameisen in deine Reportage aufnehmen?«
Sie war inzwischen aufgesprungen, griff nach einem seiner Stiefel und warf ihn schwungvoll in seine Richtung, bevor sie sich daranmachte, rasch die Vorratstasche wieder einzuräumen. Dann sagte sie gespielt drohend: »Glaub ja nicht, dass du mich dazu zwingen kannst, deinen frisch gemordeten Fisch zu essen.« Nachdem sie wenig später etwas aus der Vorratstasche gegessen hatten, waren sie zum Flussufer gegangen und hatten sich auf einen großen Felsen gesetzt. Nora sah sich um. Ihr Blick wanderte vom gegenüberliegenden Ufer über die Bäume, Felsen und Steine und folgte dann der Biegung des Flusses, dessen lebhafte Wasserbewegungen in der gleißenden Mittagssonne derart helle Lichtreflexe hervorriefen, dass sie geblendet die Augen zusammenkneifen musste. Tom zog sie an sich.
»He, ich bin auch noch da.«
Sie lehnte sich an ihn, und er küsste sie in die Halsbeuge.
»Nora, ich will dich nicht verlieren. Bitte bleib bei mir.« Als er ihren traurigen Gesichtsausdruck wahrnahm, der ihm verriet, dass sie sich schon entschieden hatte, fügte er eindringlich hinzu: »Denk doch wenigstens noch einmal darüber nach, bevor du etwas überstürzt. Ich will bestimmt keine Familie zerstören, aber glaubst du, wenn du in Deutschland so glücklich wärst, hätte das hier mit uns so passieren können?«
Sie wich seinem intensiven Blick aus, bei dem sie stets das Gefühl hatte, er könne ihr mitten ins Herz sehen. Nachdenklich betrachtete sie seine Hand, die auf ihrem Knie lag, und strich langsam über die einzelnen Finger.
»Ja, Tom. Ich glaube, dass das mit uns passiert ist, obwohl ich ein schönes Leben mit meinem Mann und meinen Kindern habe.« Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte und gerade als er den Mund öffnen wollte, legte sie einen Finger auf seine Lippen. »Warte, bevor du wieder loslegst. Es mag sein, dass Max und ich in unserem Alltagstrott gefangen sind, aber – ganz ehrlich – wo wäre der Alltag nach sechzehn Jahren nicht eingekehrt?« Sie hielt seine Hand fest und sah wieder auf die glitzernden Wellen. »Das, was ich gestern Nacht zu dir gesagt habe, ist wahr. Jedes einzelne Wort. Ich habe mich unsterblich in dich verliebt. Aber ich kann nicht hier bleiben.«
Er schloss die Augen, als hätte sie ein Urteil gesprochen.
»Ich ... ich verstehe dich nicht, Nora. Ich spüre doch, dass du mich liebst, ja sogar, dass du dieses Land liebst. Wie kannst du diese Gefühle derart beiseite schieben und so einfach sagen: Ich gehe trotzdem.«
Sie schluckte, bevor sie leise erwiderte: »Wer sagt denn, dass es einfach für mich ist, Tom?«
Eigentlich hatte er ihr energisch widersprechen wollen, denn es widerstrebte ihm, sich kampflos zu ergeben, aber er bemerkte den verzweifelten Ausdruck in ihren Augen und schwieg deshalb.
Eine Weile sagten sie beide nichts und beobachteten den Fluss, ohne sich jedoch wirklich dafür zu interessieren.
»Du weißt so viel über mich, ich aber kaum etwas über dich. Wie kommt es eigentlich, dass du nicht verheiratet bist?«, fragte sie ihn schließlich.
»Ich war es«, antwortete er, den Blick weiter aufs Wasser gerichtet.
Überrascht schaute sie auf. »Du bist geschieden?«
Als er kurz nickte, strich sie über seinen Arm. »Hast du auch Kinder?«
Er schüttelte den Kopf und sah sie dabei an.
»Ich hätte heute einen sechsjährigen Sohn, aber meine Frau hatte damals einen Unfall und verlor das Baby.«
»O Tom, wie furchtbar!« Sie machte eine kurze Pause. »Es tut mir Leid, danach gefragt zu haben.«
Traurig senkte sie den Kopf und betrachtete ihre Hände. Ihr Versuch, die gekippte Stimmung wieder in normale Bahnen zu lenken, damit der Tag nicht auf diese Weise endete, war gescheitert. Ihre Niedergeschlagenheit war ihr so deutlich anzumerken, dass Tom sie einfach wieder an sich zog. Seine Finger spielten mit einer Haarsträhne, die in der Sonne schimmerte.
»Ich will nicht, dass du gehst«, sagte er leise.
Sie küsste ihn so hingebungsvoll, dass er keine Antwort mehr brauchte.
Als sie mit den Pferden kurz vor der Farm waren, sahen sie in der Ferne die Staubwolke, die die landende Cessna aufgewirbelt hatte. Matt Harper war zurückgekehrt.
Obwohl die Schafschur erst in einigen Wochen anstand, ließ er es sich nicht nehmen, Nora an einem besonders wolligen Exemplar vorzuführen, wie die Scherer
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