Norddeutschland, Morddeutschland - 3 Krimis von der Küste (German Edition)
gnädigerweise ein Baum und dichtes Gebüsch.
Der Kriminalbiologe umrundete jetzt den dicken Stamm mit seinen ausladenden Wurzeln. „Ist das alles hier schon verspurt?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Ja, die Spurensicherung hat den Nahbereich schon abgegrast“, bestätigte Hauptkommissar Jensen. „Und im Moment ist der weitere Umkreis dran, in dem wir zumindest ein paar Hinweise zu finden hoffen – wenn der Kopf schon nicht wieder auftaucht.“
„Gut“, nickte Benecke.
Verspurt – so nannte der Kriminalbiologe es, wenn die Kollegen der Polizei schon am Leichenfundort gewesen waren und zumindest die offenkundig vorhandenen Spuren gesichert hatten. Benecke war es immer am liebsten, wenn das schon geschehen war, denn dann konnte er nicht aus Versehen Spuren verändern. Einmal hatte er seine Hose an das LKA verloren, weil seine eigenen Fasern an der Leiche gefunden worden waren.
Andererseits war genau das Realität; wer eine Spur untersuchte, vernichtete damit möglicherweise eine andere.
Manchmal musste man sich schlicht und ergreifend entscheiden, welche Spur diejenige war, die für die Ermittlungen vermutlich wertvoller sein würde.
Während Benecke sich dem Toten näherte, konnte er schon das aufgeregte Brummen und Summen der blauen Schmeißfliegen vernehmen, die ihre Arbeit verrichteten und Eier ablegten. Schon von Weitem entdeckte er die bereits geschlüpften, winzigen weißen Maden. Aber dieser Anblick war ihm so vertraut, dass er nicht einmal mehr zusammenzuckte. Gleichwohl hörte er hinter sich George leicht vor Ekel hüsteln.
Benecke sah nun den ausgestreckten Leichnam auf einem der in grauer Vorzeit bewusst angeordneten Steine liegen – einem durch Wind und Wetter abgeflachten Findling, der von mehreren weiteren, sehr viel runderen Steinen flankiert wurde. Dolmen nannte man diese von jungsteinzeitlichen Bauern und Viehzüchtern aus Findlingen errichteten Grabstätten, die als Kollektivgräber gedient hatten. Benecke hatte davon schon gehört. Jemand hatte ihn vor Jahren um ein diesbezügliches Gutachten gebeten. Es ging dabei um Knochenreste, die bereits steinzeitlich datiert gewesen waren.
Der Kriminalbiologe hatte herausfinden sollen, woran jene Menschen gestorben waren. Die Annahme von Gewalteinwirkung hatte angesichts von Schädelfrakturen nahegelegen. Benecke hatte jedoch herausgefunden, dass die Verletzungen durch Metallwaffen hervorgerufen worden waren
– und nicht durch Steinäxte. Die Datierung der Funde musste daher von Neuem vorgenommen werden.
Die Ziegensteine, unweit von Groß Stresow – imposantes Relikt aus alten Zeiten im Naturschutzgebiet Quellsumpf Ziegensteine
Es lag nun der Schluss nahe, dass die Funde aus der Zeit der slawischen Ranen stammten, die bis ins elfte Jahrhundert die Insel Rügen beherrscht hatten, ehe sie von den Dänen besiegt und zwangschristianisiert wurden. Offenbar hatten die Ranen die alten Grabstellen zunächst ausgeplündert und später selbst benutzt. Es war wie so oft – ein heiliger Ort zog weitere Heiligtümer an – ein Ort des Todes weiteres Unheil.
Benecke blieb einen Augenblick stehen und betrachtete den kopflosen Mann, dessen Beine seltsam verrenkt wirkten und stark angewinkelt waren. Ein Fuß ragte über den Stein hinweg, der andere nicht.
Nein, zufällig war der Leichnam dort nicht abgelegt worden …
Er wirkte wie drapiert.
„Das Opfer sollte wohl aus irgendeinem perversen Grund präsentiert werden, so wie es daliegt!“, meinte George.
„Zumindest denke ich
das.“
„Nicht denken“, murmelte Benecke. „Überprüfen und untersuchen, aber nicht denken, sonst fangen wir schon mit einer falschen Grundannahme an, was dazu führt, dass wir die falschen Spuren für bedeutungsvoll halten …“
„Ja, ja, ich weiß …“, entgegnete George. „Den Verstand auszuschalten passt wohl besser zu Ihrem Job als zu meinem, was?“
„Sagen Sie das nicht!“ Der Kriminalbiologe drehte sich zu Jensen um. „Ist der Leichnam bewegt worden?“
„Nein“, sagte Hauptkommissar Jensen. „Wir haben vorsichtig die Taschen seiner Kleidung nach Dokumenten durchsucht, die ihn vielleicht identifiziert hätten – aber so leicht haben es uns der oder die Täter nicht gemacht.“
Benecke nahm seine sturzsichere und wasserdichte Olympus DigitalKamera hervor und machte ein paar Aufnahmen vom Toten.
Dann näherte er sich weiter dem Stein. Als George und Jensen ihm folgen wollten, bedeutete er ihnen mit einem Handzeichen, sie sollten
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