Nordermoor
obersten Regal. Der Mann hatte sein Bett gemacht, bevor er seinen Gast in Empfang nahm. Ein weißer Bettüberwurf verhüllte Oberbett und Kopfkissen. Das Bett war ein Einzelbett.
Auf dem Nachttisch befanden sich ein Wecker und zwei Bücher, das eine enthielt die Memoiren eines bekannten Spitzenpolitikers, das andere war ein Bildband über schwedische Scania Vabis-LKWs. Als Nachttisch diente ein Schränkchen, in dem sich Arzneimittel, Brennspiritus, Schlafmittel, Schmerztabletten und ein kleines verschmiertes Glas Vas elin e befanden.
»Siehst du irgendwo Schlüssel?«, fragte Erlendur, der zur Tür hereinschaute.
»Keine Schlüssel. Du meinst Hausschlüssel?«
»Nein, die zum Schreibtisch.«
»Nein, auch nicht.«
Erlendur ging in den Korridor und in die Küche. Öffnete Schubladen und Schränke, sah aber nichts als Besteck und Gläser, Kochlöffel und Teller. Keine Schlüssel. Er ging zur Garderobe, tastete die Mäntel ab und fand ein schwarzes Etui mit einem Schlüsselbund und Kleingeld. Außer den Schlüsseln zur Außentür, zur Wohnung und zu den Zimmern hingen zwei kleine Schlüssel am Schlüsselbund, und Erlendur probierte sie am Schreibtisch. Derselbe Schlüssel passte für alle Schubladen.
Er öffnete zunächst die große Schublade in der Mitte. Dort befanden sich größtenteils Rechnungen, Telefon, Strom und Heizung, Kreditkartenabrechnungen, ein Zeitungsabonnement. Die untersten zwei Schubladen auf der linken Seite waren leer, in der zweiten von oben waren Steuerunterlagen und Lohnabrechnungen. In der obersten lag ein Fotoalbum, in dem Erlendur zu blättern begann. Alle Bilder schwarzweiß, alte Bilder von Personen zu verschiedenen Zeiten, manchmal festlich gekleidet, und Erlendur kam es so vor, als seien sie in Holbergs Wohnzimmer aufgenommen worden. Ein paar Picknickbilder, Gebüsch, Gullfoss und Geysir. Er sah zwei Fotos, die wahrscheinlich den Ermordeten in jüngeren Jahren zeigten, aber kein neueres Bild.
Er öffnete die rechten Schubladen. Die beiden obersten waren leer. In der dritten fand er Spielkarten, ein zusammengeklapptes Schachbrett, das mit den Figuren zusammen in einem Kasten steckte, und eine alte Tintenflasche.
Das Bild fand er unter der untersten Schublade.
Erlendur schob sie gerade hinein, als er so etwas wie ein leises Rascheln hörte. Er zog die Schublade heraus und schob sie wieder hinein, und wieder hörte er das Geräusch. Beim Hineinschieben rieb sich die Schublade an etwas. Er sog die Luft hörbar ein, ging in die Hocke und schaute in die Schublade, konnte aber nichts entdecken. Er zog sie heraus und schob sie hinein, und da war das Geräusch wieder. Er kniete sich auf den Boden, zog die Schublade ganz heraus und sah etwas ganz hinten an der Rückwand. Er streckte die Hand danach aus.
Es war ein kleines SchwarzWeiß-Foto, das ein Grab im Winter zeigte. Den Friedhof konnte er nicht identifizieren. Auf dem Grab war ein Grabstein, und die größten Buchstaben waren einigermaßen leserlich. Ein Frauenname stand darauf, Auður. Sonst nichts. Die Jahreszahlen konnte Erlendur nicht genau erkennen. Er fummelte nach seiner Brille in der Jackentasche, setzte sie auf und hielt sich das Bild vor die Nase: 1964-1968. Er konnte auch eine Grabschrift erkennen, aber die Buchstaben waren so klein, dass er sie nicht entziffern konnte. Vorsichtig blies er den Staub von dem Bild.
Das Mädchen war nur vier Jahre alt gewesen, als es starb.
Erlendur blickte auf und nahm plötzlich das Toben des Wetters wahr. Es war zwar mitten am Tag, aber der Himmel war in dieser Zeit der kürzer werdenden Tage dunkel, und der Herbstregen peitschte gegen das Haus.
Kapitel 6
D er große Lastwagen schwankte im Sturm wie ein Urweltviech, auf das der Regen einschlug. Die Polizei brauchte eine geraume Zeit, um den Wagen zu finden, denn er stand nicht in der Nähe von Holbergs Haus, sondern auf einem Parkplatz auf der anderen Seite d er Snorrabraut in der Nähe des Ärztezentrums Domus Medica, ein paar Minuten zu Fuß von Holbergs Haus. Es war darauf hinausgelaufen, dass im Radio nach dem Wagen gefahndet werden musste. Streifenpolizisten fanden ihn ungefähr zur gleichen Zeit, als Erlendur und Sigurður Óli mit dem Foto Holbergs Wohnung verließen. Die Spurensicherung wurde herbeibeordert, um den Wagen auf der Suche nach Hinweisen, die für die Ermittlung wichtig sein konnten, zu durchkämmen. Ein M.A.N. mit rotem Führerhaus. Das Einzige, was bei der Schnelldurchsuchung gefunden wurde, war ein Stapel
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