Nordermoor
und wollte an Erlendur vorbeigehen, aber Erlendur stellte sich ihm in den Weg und drängte ihn an die Hauswand. Sie sahen einander in die Augen.
»Sie hat dir ein Beweisstück übergeben«, sagte Erlendur. »Das einzige Beweisstück, das sie hatte. Sie war sicher, dass Spuren von Holberg daran waren.«
»Sie hat mir nie irgendwas gegeben«, zischte Rúnar. »Lass mich in Ruhe.«
»Sie hat dir den Schlüpfer gegeben.«
»Das war gelogen.«
»Sie hätten dich damals gleich schassen sollen, verflucht noch mal«, sagte Erlendur. »Erbärmliches Dreckstück, das du bist.«
Er trat langsam und mit angewiderter Miene zurück. Rúnar stand zusammengesackt vor der Hauswand, ein armseliger Tattergreis.
»Ich habe ihr bloß klargemacht, was sie zu erwarten hätte, wenn sie die Sache weiter verfolgen würde«, sagte er, und seine Stimme überschlug sich. »Ich habe ihr einen Gefallen getan. Bei Gericht lachen sie doch bloß über solche Fälle.«
Erlendur drehte sich um und ging weg. Er fragte sich, wieso Gott, so es ihn denn gäbe, Gefallen daran finden könnte, einen Mann wie Rúnar so alt werden zu lassen, aber das Leben eines vierjährigen Mädchens zu vernichten.
Er wollte noch einmal zu Elín, stattete aber erst der Bibliothek in Keflavík einen Besuch ab. Er ging zwischen den Buchregalen umher und ließ die Blicke an den Buchrücken entlanggleiten, bis er die Bibel fand. Erlendur kannte sich mit dem Wort Gottes gut aus. Er öffnete das Buch bei den Psalmen von David, Nummer 64. Dort fand er die Zeile, die auf dem Grabstein stand.
Vor den Schrecken des Feindes bewahre mein Leben.
Er hatte das richtig behalten. Die Grabinschrift war die Fortsetzung der ersten Zeile des Psalms. Erlendur stand am Regal, las sie einige Male, strich gedankenverloren mit der Hand über die Seiten und sagte den Satz halblaut vor sich hin.
Die erste Zeile des Psalms war eine Anrufung an Gott, und Erlendur schien es, als höre er nach all den Jahren den stummen Ruf der Frau.
Höre, Gott, meine Stimme in meiner Klage.
Kapitel 11
E rlendur hielt vor dem kleinen, weiß gestrichenen und mit Wellblech verkleideten Haus und stellte den Motor ab. Er blieb noch eine Weile im Auto sitzen, um die Zigarette zu Ende zu rauchen. Er versuchte, das Rauchen z u r eduzieren, und wenn nichts dazwischen kam, war er bei fünf pro Tag angelangt. Das hier war die achte an diesem Tag, und es war noch nicht einmal drei Uhr.
Er stieg aus, ging die Treppen zum Eingang hoch und klingelte. Er wartete eine ganze Weile, ohne dass etwas geschah. Er klingelte wieder, aber auch das zeitigte keinen Erfolg. Er schaute durch das Fenster hinein und sah den grünen Mantel und den Regenschirm und die Stiefel. Er klingelte zum dritten Mal, stand auf dem Treppenabsatz und versuchte, sich gegen den Regen zu schützen. Auf einmal ging die Tür auf und Elín starrte ihm direkt ins Gesicht.
»Lass mich in Ruhe, hörst du! Verschwinde! Hau ab!«
Sie wollte die Tür zuknallen, aber Erlendur hatte seinen Fuß dazwischen.
»Wir sind nicht alle wie Rúnar«, sagte er. »Ich weiß, dass deiner Schwester übel mitgespielt worden ist. Ich habe mit Rúnar gesprochen. Was er getan hat, ist unentschuldbar, aber es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Er ist ein seniler Tattergreis und wird nie einsehen, dass er etwas falsch gemacht hat.«
»Lass mich gefälligst in Ruhe!«
»Ich muss mit dir reden. Wenn es so nicht geht, dann muss ich dich zu einer Vernehmung vorladen lassen. Das möchte ich vermeiden.« Er nahm das Foto vom Friedhof aus seiner Manteltasche und schob es durch den Türspalt.
»Dieses Foto habe ich zu Hause bei Holberg gefunden«, sagte er.
Elín antwortete nicht. Es verging eine geraume Zeit. Erlendur hielt das Foto durch den Türspalt, ohne dass er Elín sehen konnte, die sich immer noch gegen die Tür stemmte. Aber nach und nach spürte er, wie der Druck auf seinen Fuß nachließ, und Elín nahm das Foto entgegen. Bald stand die Tür offen. Die Frau ging mit dem Bild in der Hand in die Wohnung. Erlendur trat ein und machte die Tür vorsichtig zu.
Elín ging in ein kleines Wohnzimmer, und einen Augenblick überlegte Erlendur, ob er sich die nassen Schuhe ausziehen sollte. Er putzte sie sich auf der Matte gründlich ab und folgte Elín ins Wohnzimmer, vorbei an einer ordentlichen kleinen Küche und einem Arbeitszimmer. Im Wohnzimmer hingen Bilder an der Wand, eine Stickerei in goldenem Rahmen, und eine kleine elektrische Orgel stand in einer Ecke.
»Kennst du
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