Nordermoor
und die Motorengeräusche der LKWs waren ohrenbetäubend. Mitarbeiter und Kunden der Firma eilten geschäftig zwischen Betriebsgelände und Lagerhalle hin und her.
Das Wetteramt prophezeite anhaltende Regenfälle. Sigurður Óli versuchte, sich mit seinem Mantel gegen den Regen zu schützen, indem er ihn sich über den Kopf zog und zur Lagerhalle hinüberrannte. Er wurde an den Betriebsmeister verwiesen, der in einer kleinen Glaskabine saß und Papiere durchblätterte. Er machte einen überaus beschäftigten Eindruck.
Der Betriebsmeister war ein reichlich massiger Mann in einem blauen Anorak, der mit einem Knopf über dem Bauch zugeknöpft war. Zwischen seinen Fingern klemmte ein Zigarrenstummel. Er hatte von Holbergs Tod gehört und erklärte, ihn flüchtig gekannt zu haben. Beschrieb ihn als zuverlässigen Mann und tüchtigen Fernfahrer, der jahrzehntelang kreuz und quer durch Island gefahren war und das isländische Verkehrsnetz wie seine Westentasche kannte. Er war sehr verschlossen gewesen, hatte niemanden an sich herangelassen, hatte keine Freunde in dieser Firma. Der Betriebsmeister wusste nicht, was er früher gemacht hatte, glaubte, dass er schon immer LKW-Fahrer gewesen sei. So hörte er sich an. Unverheiratet und kinderlos, soweit bekannt. Sprach niemals über irgendwelche nächsten Angehörigen.
»Ja genau«, sagte der Betriebsmeister, als wolle er das Gespräch beenden, nahm ein kleines Feuerzeug aus der Jackentasche und zündete den Zigarrenstummel an. »So eine Scheiße«, – paff, paff – , »so über den Jordan zu gehen«, paff.
»Mit wem hier hatte er am meisten Kontakt?«, fragte Sigurður Óli und versuchte es zu vermeiden, den widerlichen Zigarrenrauch einzuatmen.
»Du kannst mit Hilmar oder Guðjón sprechen, die haben ihn wohl am besten gekannt. Hilmar ist irgendwo da vorne. Er stammt aus Reyðarfjörður und hat manchmal bei Holberg in Nordermoor übernachtet, wenn er hier in der Stadt einen Ruhetag einlegen musste. Da gibt’s genaue Vorschriften für die Fahrer, und dann brauchen sie ein Quartier in der Stadt.«
»Hat er am letzten Wochenende bei ihm übernachtet?«
»Nein, da hat er in den Ostfjorden gearbeitet. Aber er könnte vielleicht das Wochenende davor bei ihm gewesen sein.«
»Hast du irgendeine Vorstellung, wer Holberg etwas Böses gewünscht haben könnte? Irgendwelchen Ärger hier am Arbeitsplatz, oder …«
»Nein, nein, nichts«, – paff – , »dergleichen«, paff, paff. Der Mann hatte Probleme, die Glut in der Zigarre am Leben zu halten. »Sprich mal mit«, – paff – , »Hilmar, mein Lieber. Vielleicht kann er dir weiterhelfen.«
Sigurður fand Hilmar mit Hilfe der Beschreibung des Betriebsmeisters. Er stand an einem Tor der Lagerhalle und schaute zu, wie ein Lastwagen entladen wurde. Hilmar war ein ziemlicher Koloss, fast zwei Meter groß, athletisch, rothaarig, bärtig. Behaarte Arme guckten aus einem kurzärmeligen T-Shirt hervor. Er schien um die fünfzig zu sein. Die abgewetzten Jeans hielten altmodische blaue Hosenträger. Der LKW wurde mit einem kleinen Gabelstapler entladen. Am nächsten Tor fuhr mit entsprechendem Lärm ein LKW rückwärts an die Rampe heran, und gleichzeitig hupten sich zwei Fahrer auf dem Gelände an und überschütteten sich mit Beschimpfungen.
Sigurður ging zu Hilmar hin und tippte ihm leicht auf die Schulter, aber der nahm ihn gar nicht wahr. Er tippte fester, und endlich drehte sich Hilmar zu ihm um. Er sah, dass Sigurður Óli mit ihm sprach, konnte aber nicht hören, was er sagte, und blickte ihn verständnislos an. Sigurður Óli erhob die Stimme, aber das nutzte nichts. Er sprac h n och lauter, und es schien ihm, als zuckte so etwas wie ein Blitz des Verstehens in Hilmars Augen auf, aber das war eine Täuschung. Hilmar schüttelte nur den Kopf und deutete auf seine Ohren.
Sigurður Óli kam in Fahrt, richtete sich auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und brüllte in voller Lautstärke los, doch im gleichen Augenblick verstummte der Krach so plötzlich, dass seine Worte mit geballter Kraft zwischen den Wänden der riesigen Lagerhalle widerhallten: »HAST DU BEI HOLBERG GESCHLAFEN?«
Kapitel 10
E r harkte gerade Laub in seinem Garten zusammen, als Erlendur herantrat. Schaute erst auf, als Erlendur schon eine ganze Weile dagestanden und die langsamen Bewegungen des alten Mannes mitverfolgt hatte. Wischte sich einen Tropfen von der Nase ab. Es schien keine Rolle zu spielen, dass es regnete und dem nassen und pappigen Laub
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