Nordermoor
wunderlich; eigentlich war er eine richtige Legende. Es gab viele Geschichten über ihn. Das Gehirn hat er immer zu Hause bei sich aufbewahrt. Ich weiß nicht, wie ihm das gelungen ist, denn Einsteins Verwandte versuchten unentwegt, es zurückzubekommen, aber ohne Erfolg. Im Alter schließlich schloss er Frieden mit den Verwandten und beschloss, ihnen das Gehirn zurückzugeben. Verstaute es im Kofferraum und fuhr damit quer durch Amerika zu einem Enkelkind von Einstein in Kalifornien.«
»Ist das wahr?«
»So wahr, wie ich hier stehe.«
»Und warum erzählst du mir das?«, fragte Erlendur.
Der Arzt lüftete das Laken von der Kindesleiche und schaute darunter.
»Bei ihr fehlt das Gehirn«, sagte er, und auf einmal war der unbekümmerte Ausdruck von seinem Gesicht verschwunden.
»Was?«, stöhnte Erlendur.
»Das Gehirn«, sagte der Arzt, »ist nicht an seinem Platz.«
Kapitel 22
E rlendur begriff nicht, was der Arzt sagte, und er schaute ihn an, als habe er ihn nicht gehört. Er konnte sich keinen Reim auf das machen, was der Arzt erzählte. Er schaute einen Moment auf die Leiche, blickte aber schnell wieder hoch, als er die Knochen einer kleinen Hand unter dem Laken hervorlugen sah. Er getraute sich nicht, sich das Bild von dem, was unter dem Laken lag, einzuprägen. Er wollte nicht wissen, wie die irdischen Überreste des Mädchens aussahen. Wollte nicht, dass dieses Bild jedes Mal wieder auftauchte, wenn er an sie dachte.
»Sie ist schon einmal geöffnet worden«, sagte der Arzt.
»Fehlt das Gehirn?«, stöhnte Erlendur.
»Sie ist damals obduziert worden.«
»Ja, im Krankenhaus in Keflavík.«
»Wann ist sie gestorben?«
»1968«, sagte Erlendur.
»Und wenn ich es richtig verstehe, soll Holberg ihr Vater gewesen sein. Aber ihre Eltern haben nicht zusammengelebt?«
»Das Mädchen hatte nur seine Mutter.«
»Hatten sie die Genehmigung, Organe von ihr zu wissenschaftlichen Zwecken zu nutzen?«, fuhr der Arzt fort. »Weißt du was darüber? Hat die Mutter dem zugestimmt?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Erlendur.
»Es könnte ohne Genehmigung entfernt worden sein. Wer war für sie zuständig, als sie starb? Wer war ihr Arzt?«
Erlendur nannte Franks Namen. Der Arzt wurde nachdenklich.
»Ich kann nicht behaupten, dass ich nie von derartige n Fällen gehört habe. Die Anverwandten werden manchmal gefragt, ob Organe zu wissenschaftlichen Zwecken entfernt werden dürfen. Alles im Namen der Wissenschaft, selbstverständlich. Wir brauchen das. Ich kenne Beispiele, dass bestimmte Organe zu Forschungszwecken entnommen werden, bevor die Beerdigung stattfindet, wenn keine Anverwandten vorhanden sind. Aber ich kenne nur wenige Beispiele, dass Organe de facto gestohlen wurden, wenn es Anverwandte gibt.«
»Wie kann das Gehirn fehlen?«, fragte Erlendur noch einmal.
»Also der Kopf ist entzweigesägt worden, um das Gehirn zur Gänze entnehmen zu können.«
»Nein, ich meine …«
»Saubere Arbeit«, setzte der Arzt fort. »Der hat was von seinem Handwerk verstanden. Hier ist die Wirbelsäule durch den Hals von hinten angeschnitten worden, um das Gehirn loszulösen.«
»Ich weiß, dass das Gehirn wegen eines Tumors untersucht wurde«, sagte Erlendur. »Soll das heißen, das es nicht wieder an seinen Platz kam?«
»Es gibt eine bestimmte Erklärung«, sagte der Arzt und ließ das Laken wieder fallen. »Wenn sie das Gehirn für wissenschaftliche Zwecke entnommen haben, konnten sie es kaum noch vor der Beerdigung wieder zurückgeben. Es musste fixiert werden.«
»Fixiert?«
»Damit man besser damit arbeiten kann. Es wird dann wie Weißkäse. Das braucht seine Zeit.«
»Hätte es nicht genügt, ein paar Proben zu entnehmen?«
»Keine Ahnung«, sagte der Arzt. »Ich weiß nur, dass das Gehirn nicht an seinem Platz ist, und deswegen wird es schwierig sein, genau zu bestimmen, was ihren Tod herbeigeführt hat. Vielleicht können wir es mit einer DNA-Analyse des Knochengewebes herausfinden. Die Frage ist, was uns das sagt.«
Die Verwunderung in Franks Gesichtsausdruck war nicht zu übersehen, als er die Tür öffnete und wieder Erlendur im strömenden Regen da stehen sah.
»Wir haben das Mädchen exhumiert«, sagte Erlendur ohne Umschweife, »und das Gehirn von ihr fehlt. Weißt du etwas darüber?«
»Exhumiert? Das Gehirn?«, fragte der Arzt verblüfft und ließ Erlendur in sein Büro. »Was meinst du damit, dass das Gehirn fehlt?«
»Das, was ich sage. Das Gehirn ist entfernt worden.
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