Nordermoor
ist im Grunde genommen das, was passieren kann. Früher hat man sich da nicht richtig drum gekümmert, genau wie in der Erzählung geschildert wird. Leute, die im Krankenhaus starben, wurden obduziert, außer wenn es untersagt war, und die Obduktion diente natürlich zu Unterrichtszwecken. Manchmal wurden Proben entnommen, und das konnte eigentlich alles Mögliche sein, von ganzen Organen bis hin zu kleinen Gewebeproben. Dann wurde alles wieder zugemacht und der Betreffende ehrenvoll begraben. Heute geht es da aber etwas anders zu. Eine Obduktion kann nicht stattfinden, wenn die Angehörigen dem nicht zugestimmt haben, und Organe werden nur dann zu Unterrichts- und Forschungszwecken entnommen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Ich glaube, dass heute nichts mehr gestohlen wird.«
»Du glaubst es nur?«
Der Arzt zuckte die Achseln.
»Wir sprechen doch nicht über Organtransplantationen, oder was?«, fragte Erlendur.
»Das ist etwas ganz anderes. Die Leute sind meistens bereit, anderen zu helfen, wenn es um Leben oder Tod geht.«
»Und wo ist die Organsammlung?«
»Hier in diesem Haus gibt es Tausende von solchen Proben«, sagte der Gerichtsmediziner. »Hier am Barónsstígur. Den größten Teil bildet die so genannte Dungal-Sammlung, eine der größten Organsammlungen im ganzen Land.«
»Könntest du mir die zeigen?«, fragte Erlendur. »Gibt es ein Verzeichnis darüber, woher die Proben stammen?«
»Das ist alles sorgfältig registriert. Ich habe mir bereits erlaubt, nach unserem Objekt zu forschen, aber ich habe es nicht gefunden.«
»Wo ist es dann?«
»Du solltest mal mit der Professorin sprechen und hören, was sie dazu sagt. Ich glaube, es gibt noch irgendwelche Verzeichnisse in der Universität.«
»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«, fragte Erlendur. »Als du feststelltest, dass das Gehirn fehlte? Du hast es doch gewusst?«
»Sprich mit ihr und komm dann wieder«, sagte der Gerichtsmediziner, nannte ihm den Namen der Professorin und wollte nicht weiter damit behelligt werden.
»Du kennst dann auch den Gläserpalast«, sagte Erlendur.
»Ein Zimmer hier wurde Gläserpalast genannt«, sagte der Arzt. »Das gibt es aber nicht mehr. Frag mich nicht, was aus den Gläsern geworden ist, ich habe keine Ahnung.«
»Findest du es unangenehm, darüber zu sprechen?«
»Hör jetzt endlich auf damit.«
»Was?«
»Hör auf.«
Die Professorin, ihres Zeichens Fakultätsvorsitzende an der Medizinischen Abteilung der Universität Islands, hieß Hanna und starrte Erlendur über den Tisch hinweg an, als sei er ein bösartiges Karzinom, das sie so schnell wie möglich aus dem Büro entfernen müsse. Sie war etwas jünger als Erlendur, schien Haare auf den Zähnen zu haben, sprach schnell und antwortete kurz und bündig. Sie schien weder Geschwafel noch Abschweifungen zu ertragen und bat ihn ziemlich schroff, zur Sache zu kommen, als Erlendur mit einer langen Rede über die Gründe beginnen wollte, weswegen er in ihrem Büro saß. Erlendur lächelte innerlich. Er mochte sie auf Anhieb und wusste, dass sie sich im Laufe dieses Gesprächs noch in die Haare geraten würden. Sie trug ein dunkles Kostüm, war ungeschminkt und etwas mollig. Sie trug das blonde Haar kurz geschnitten, die Hände sahen so aus, als ob sie zupacken könnten, der Gesichtsausdruck war ernst und nachdenklich. Erlendur hätte sie gern lächeln sehen. Diesem Wunsch kam sie nicht nach.
Er hatte sie in einer Vorlesung gestört. Klopfte wie ein Trottel an die Tür des Hörsaals, um nach ihr zu fragen. Sie kam zur Tür und bat ihn gefälligst zu warten, bis die Vorlesung zu Ende war. Erlendur stand eine Viertelstunde auf dem Gang wie jemand, der schwänzt, bevor die Tür wieder aufgerissen wurde. Hanna kam herausgestürmt und sagte, er solle ihr folgen. Damit hatte er seine liebe Mühe. Er schien zwei Schritte zu brauchen, wo sie einen machte.
»Ich verstehe nicht, was die Kriminalpolizei von mir will«, sagte sie in voller Fahrt und schaute sich um, wie um sich zu vergewissern, dass Erlendur mit ihr Schritt hielt.
»Das wird sich zeigen«, sagte Erlendur atemlos.
»Das will ich auch in der Tat hoffen«, sagte Hanna und ließ ihn in ihr Büro.
Als Erlendur ihr sein Anliegen vorgetragen hatte, saß sie da und dachte eine ganze Weile nach. Erlendur hatte ihr mit dem Bericht über Auður und ihre Mutter, über die Obduktion, die Krankheitsdiagnose und das Gehirn, das entfernt worden war, etwas den Wind aus den Segeln
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