Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nordermoor

Nordermoor

Titel: Nordermoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
Vom Netzwerk:
noch nicht begriffen, wie so etwas möglich war.
    Eva Lind hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, und sie bemerkte, wie Erlendur sich die Brust massierte, während er sprach. Sie spürte, dass der Fall Holberg ihn mitnahm. Es klang, als stünde er kurz davor, die Flinte ins Korn zu werfen, und das war etwas, was sie überhaupt nicht an ihm kannte. Sie spürte, wie müde er war, wenn er von dem kleinen Mädchen redete. Er schien sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, die Stimme wurde leiser, und er war mit den Gedanken weit fort.
    »Ist Auður das Mädchen, von dem du heute Morgen gesprochen hast, als du ausgeflippt bist?«, fragte Eva Lind.
    »Sie war vielleicht, ich weiß nicht so recht, ein Gottesgeschenk für ihre Mutter«, sagte Erlendur. »Wurde geliebt bis über Grab und Tod hinaus. Verzeih mir, dass ich so böse zu dir war. Ich wollte das gar nicht, aber wenn ich sehe, wie du lebst, wenn ich deine Gleichgültigkeit und deine Missachtung dir selbst gegenüber sehe, wenn ich die Zerstörung sehe, all das, was du dir selber antust, und wenn ich dann einen kleinen Sarg aus der Erde kommen sehe, dann verstehe ich einfach überhaupt nichts mehr. Dann verstehe ich nicht mehr, was vor sich geht, und ich würde am liebsten …«
    Erlendur verstummte.
    »… mich nach Strich und Faden durchprügeln«, beendete Eva Lind den Satz.
    Erlendur zuckte mit den Achseln.
    »Ich weiß nicht, was ich am liebsten tun würde. Vielleicht ist es am besten, überhaupt nichts zu tun. Vielleicht ist es am besten, das Leben einfach gewähren zu lassen. Alles zu verdrängen. Etwas zu tun, was Sinn macht. Warum gibt man sich überhaupt mit so etwas ab? Mit diesem ganzen Dreck. Mit Leuten wie Elliði zu reden. Sich mit einem Scheißkerl wie Eddi zu arrangieren. Zu sehen, womit sich Leute wie Holberg vergnügen. Berichte über Vergewaltigungen zu lesen. Sich in Hausfundamente voll Ungeziefer und Scheiße runterzugraben. Kleine Särge auszugraben.«
    Erlendur massierte sich heftiger.
    »Man glaubt, dass das keinen Einfluss auf einen hat. Man glaubt, dass man stark genug ist, um so etwas zu ertragen. Man glaubt, dass man sich mit den Jahren gewappnet hat und distanziert auf diesen Dreck blicken kann, als gehe einen das alles nichts an, um auf die Weise zu versuchen, bei Verstand zu bleiben. Aber da ist keine Rede von Gewappnetsein. Niemand ist stark genug. Das Widerwärtige verfolgt einen wie ein böser Geist, der sich im Inneren einnistet und einen nicht in Ruhe lässt, bis einem der Dreck wie das Leben selbst vorkommt und man vergessen hat, wie normale Menschen leben. So liegt die Sache. Wie ein böser Geist, der losgelassen wurde, um einem im Kopf herumzuspuken und einen zum Schluss kaputtzumachen.«
    Erlendur seufzte tief.
    »Das Ganze ist ein einziger verdammter Sumpf.«
    Er verstummte, und Eva Lind saß schweigend bei ihm.
    So verging eine Weile, bis Eva Lind aufstand, sich an die Seite ihres Vaters setzte, ihre Arme um ihn legte und sich fest an ihn schmiegte. Sie hörte sein Herz taktsicher wie eine beruhigende Uhr schlagen, und dann schlief sie mit einem kleinen Lächeln im Gesicht ein.

Kapitel 30
    A m nächsten Morgen trafen sich gegen neun Uhr die Kriminalbeamten und die Mannschaft von der Spurensicherung wieder bei Holbergs Haus. Es war noch gar nicht richtig hell, obwohl der Tag schon angebrochen war. Der Himmel war schwer verhangen, und es regnete noch immer. Im Rundfunk wurde gesagt, dass die Niederschlagsmeng en in diesem Oktober in Reykjavík sich dem Rekordjahr 1929 näherten.
    Um die Leitungen war alles gesäubert worden, und unter dem Fundament war nichts Lebendiges mehr zu sehen. Das Loch in der Bodenplatte war vergrößert worden, sodass jetzt zwei Männer zugleich nach unten kommen konnten. Die Hausbewohner standen an der Kellertür beieinander. Sie hatten sich einen Klempner organisiert, den sie sofort herbeiordern konnten, wenn die Polizei die Genehmigung dazu gab.
    Bald stellte sich heraus, dass der Hohlraum beim Abflussrohr verhältnismäßig klein war. Er hatte einen Umfang von etwa drei Quadratmetern und war abgedeckt, denn der Boden war keineswegs überall unter der Platte abgesunken. Das Rohr war an der gleichen Stelle wie früher geborsten. Man sah die alte Reparatur, und unter dem Rohr war anderer Splitt als daneben. Die Leute von der Spurensicherung diskutierten, ob sie das Loch nicht noch größer machen und den Splitt darunter ausheben sollten, damit man gut unter die ganze Platte schauen konnte. Nach

Weitere Kostenlose Bücher