Nordermoor
verabschiedete mich von meinen Freundinnen und ging dann allein nach Hause. Ich hatte es nicht weit. Aber als ich die Tür öffnete, wir wohnten damals in einem kleinen Haus an einer neuen Straße, die in Húsavík gebaut wurde, da stand er auf einmal hinter mir. Er sagte etwas, was ich nicht verstanden habe, schob mich zur Tür hinein und machte sie hinter sich zu. Ich fiel aus allen Wolken und wusste nicht, ob ich erstaunt sein oder Angst haben sollte. Ich war auch etwas beschwipst vom Alkohol. Ich kannte den Mann natürlich überhaupt nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen.«
»Warum gibst du dir dann die Schuld daran?«, fragte Elinborg.
»Beim Tanzen bin ich etwas ausgeflippt«, sagte Katrín nach einer Weile. »Ich habe ihn zum Tanzen aufgefordert. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Ich hatte ein bisschen getrunken, und ich hab nie viel Alkohol vertragen können. Meine Freundinnen und ich hatten uns prima amüsiert, irgendwie sind wir ein bisschen über die Stränge geschlagen. Verantwortungslos. Betrunken.«
»Aber deswegen kannst du dir doch nicht selber die Schuld …«, begann Elinborg.
»Nichts was du sagst, kann mir auch nur im Geringsten helfen«, sagte Katrín bedrückt und blickte Elinborg an, »und deswegen brauchst du mir nicht zu sagen, was ich kann und was ich nicht kann. Das hat überhaupt keinen Sinn.«
»Danach hatte er sich uns angeschlossen«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Machte gar keinen schlechten Eindruck, dieser Mann. Er war witzig und wusste, wie er uns Mädchen zum Lachen bringen konnte. Später habe ich mich erinnert, dass er nach Albert fragte und herausbekam, dass ich allein zu Hause war. Aber das machte er so, dass ich nicht den geringsten Verdacht schöpfte, dass er etwas im Schilde führte.«
»Das ist in allen Hauptpunkten dieselbe Geschichte wie mit der Frau in Keflavík«, sagte Erlendur. »Sie gestattete ihm, sie nach Hause zu begleiten. Dann bat er darum, anrufen zu dürfen, und fiel in der Küche über sie her, zerrte sie ins Schlafzimmer und verging sich dort an ihr.«
»Der Mann war plötzlich wie verwandelt. Grauenvoll. Was er da gesagt hat. Er riss mir den Mantel herunter, schob mich ins Haus und überschüttete mich mit widerwärtigen Namen. Er war ganz wild. Ich versuchte, mit ihm zu reden, aber das war völlig zwecklos, und als ich um Hilfe zu rufen begann, fiel er über mich her und brachte mich zum Schweigen. Dann schleifte er mich ins Schlafzimmer …«
Sie nahm ihre ganzen Kräfte zusammen und erzählte ihnen, was Holberg getan hatte, der Reihe nach und ohne etwas auszulassen. Sie hatte nichts von dem vergessen, was an dem Abend passiert war. Im Gegenteil, sie konnte sich bis ins kleinste Detail an alles erinnern. Ihr Bericht war völlig frei von Gefühlsregungen. Es war, als würde sie eiskalte Fakten von einem Blatt ablesen. Sie hatte nie zuvor in dieser Weise, mit dieser Präzision darüber gesprochen, und sie hatte eine solche Distanz dazu gewonnen, dass es Erlendur vorkam, sie beschreibe da etwas, was einer anderen Frau passiert war. Nicht ihr selbst, sondern einer anderen. Anderswo. Zu einer anderen Zeit. In einem anderen Leben.
Einmal während des Berichts verzerrte sich das Gesicht von Erlendur, und Elinborg fluchte im Stillen.
Katrín verstummte.
»Warum hast du das Schwein nicht angezeigt?«, fragte Elinborg.
»Er war ein Scheusal. Er drohte mir, er würde zurückkommen und mich fertig machen, wenn ich ihn anzeigen und die Polizei ihn festnehmen würde. Und was noch schlimmer war, er sagte, er würde behaupten, dass ich ihn gebeten hätte, mit zu mir nach Hause zu kommen, weil ich mit ihm schlafen wollte. Er drückte das mit anderen Worten aus, aber ich verstand schon, worauf er hinauswollte. Er war unglaublich stark, aber mir hat man soweit nichts angesehen. Da hat er aufgepasst, das fiel mir später ein. Er schlug mich ein paar Mal ins Gesicht, aber nie fest.«
»Wann geschah das?«, fragte Erlendur.
»Das war 1961. Spät. Im Herbst.«
»Und danach geschah nichts mehr? Hast du Holberg nie wieder gesehen, oder …«
»Nein. Ich habe ihn danach nie wieder gesehen. Erst als ich das Bild in den Zeitungen sah.«
»Du bist von Húsavík weggezogen?«
»Das hatten wir eigentlich sowieso vor. Albert hatte sich schon lange mit dem Gedanken getragen. Nach diesem Vorfall hatte ich auch nicht mehr so viel dagegen. Die Leute in Húsavík sind nett, und es war auch schön, dort zu leben, aber ich bin seitdem nie wieder da gewesen.«
»Du
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