Nordermoor
ausfindig gemacht worden, aber der jüngere war nicht aufzufinden. Er war geschieden und wohnte allein in einer kleinen Wohnung im östlichen Teil der Stadt, die leer zu sein schien. Auch vor diesem Haus war eine Wache postiert. Die Polizei arbeitete daran, Informationen über ihn zu sammeln, und eine Beschreibung wurde an alle isländischen Polizeistationen geschickt. Noch glaubte man keine Gründe zu haben, eine Suchmeldung an die Medien zu geben.
Erlendur fuhr vor dem Leichenschauhaus am Barónsstígur vor, wohin man die Leiche des Mannes, der wahrscheinlich Grétar war, gebracht hatte. Der Gerichtsmediziner, derselbe, der Holberg und Auður untersucht hatte, hatte die Plastikhülle entfernt. Die Leiche eines Mannes, dem der Kopf nach hinten gedreht worden war, war zum Vorschein gekommen; der Mund stand wie in einem Angstschrei offen, die Arme lagen neben dem Rumpf. Die Haut war runzlig und entfärbt, und an dem nackten Körper befanden sich an einigen Stellen Verwesungsflecken. Der Kopf war übel zugerichtet, die langen Haare hingen farblos herunter.
»Er hat ihm die Eingeweide herausgenommen«, sagte der Gerichtsmediziner.
»Was?«
»Der, der ihn bei sich gelagert hat. Vernünftig, wenn man eine Leiche aufbewahren will. Wegen des Geruchs. Er ist langsam, aber sicher in der Kunststoffhülle eingetrocknet. So gesehen ziemlich gut erhalten.«
»Kannst du die Todesursache erkennen?«
»Über den Kopf war eine Plastiktüte gestülpt worden, was darauf hindeutet, dass er erstickt worden ist, aber ich muss ihn noch besser untersuchen. Später sage ich dir alles, was ich herausgefunden habe, aber dazu brauche ich Zeit. Weißt du, wer es ist? Ziemlich jämmerlicher Typ.«
»Ich habe einen bestimmten Verdacht«, sagte Erlendur.
»Hast du mit der Professorin gesprochen?«
»Eine reizende Frau.«
»Nicht wahr.«
Sigurður Óli wartete im Büro auf Erlendur und sagte, er sei auf dem Weg in die Abteilung für Spurensicherung. Es war gelungen, einige Fragmente von den Filmen zu entwickeln, die unter Holbergs Keller gefunden worden waren. Erlendur berichtete ihm in groben Zügen von seinem und Elinborg’s Gespräch mit Katrín.
Ragnar, der Chef der Abteilung, wartete in seinem Büro auf sie. Einige Filme lagen auf dem Schreibtisch und Fotos, die vergrößert worden waren. Er reichte ihnen die Fotos, und sie beugten sich darüber.
»Wir konnten bloß diese drei kriegen«, sagte Ragnar, »und ehrlich gesagt weiß ich nicht, was sie darstellen. Es waren sieben Kodak-Filme mit je 24 Bildern. Drei waren völlig schwarz, und wir wissen nicht, ob sie belichtet waren, aber von einem konnten wir das bisschen vergrößern, was ihr da seht. Sagt euch das was?«
Erlendur und Sigurður Óli konzentrierten sich auf die Fotos. Alle waren schwarz-weiß. Zwei waren zur Hälfte schwarz, so als habe sich das Objektiv nicht ganz geöffnet. Das dritte und letzte war ganz und zeigte einen Mann, der ein Foto von sich selbst im Spiegel machte. Die Kamera war klein und flach, auf ihr steckte ein Blitzwürfel mit vier Birnen, und der Blitz beleuchtete den Mann im Spiegel.
Er trug Jeans und eine Windjacke, die ihm bis zur Taille reichte.
»Könnt ihr euch an die Blitzwürfel erinnern?«, fragte Erlendur, und seine Stimme hatte fast einen nostalgischen Unterton. »Das war vielleicht eine Revolution.«
»Daran kann ich mich gut erinnern«, sagte Ragnar, der im selben Alter wie Erlendur war. Sigurður Óli schaute von einem zum anderen und schüttelte den Kopf.
»Könnte man das ein Selbstporträt nennen?«, fragte Erlendur.
»Wegen der Kamera kann man sein Gesicht kaum sehen«, sagte Sigurður Óli, »aber ist es nicht wahrscheinlich, dass es Grétar selber ist?«
»Kennt ihr die Umgebung, das heißt das, was man von ihr sehen kann?«, fragte Ragnar.
Im Spiegelbild konnte man hinter dem Fotografen einen Teil von dem sehen, was wie ein Wohnzimmer aussah. Erlendur erkannte eine Stuhllehne und sogar einen Esszimmertisch, einen Teppich auf dem Boden, und etwas, was ein Fenstervorhang bis auf den Boden sein konnte, aber alles andere war schwer auszumachen. Das meiste Licht fiel auf den Mann im Spiegel, seitlich wurde es dann weniger und verebbte schließlich in kompletter Dunkelheit.
Sie starrten lange und intensiv auf das Bild. Nach geraumer Zeit glaubte Erlendur in der Ecke links vom Fotografen etwas auszumachen, was ihm eine gewisse Form zu haben schien, vielleicht sogar ein Profil, Augenbrauen und Nase. Es war nur ein Gefühl, das er
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