Norderney-Bunker
neuen Anlauf nahm und es dieses Mal mit Robert Stolz probierte: „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“ klang es nun über den Kurplatz hinweg, während sich eine mondäne Stille formierte, die je nach touristischer Zielgruppe zwischen aufrichtig verträumt und aufgeregt verständnislos schwankte.
Lübbert zögerte mit einem klaren „Ja“ keine Sekunde, als Winnetou ihn fragte, ob er nicht mit ihm gemeinsam den Standort wechseln wolle.
„Lass uns mal wieder rüber zum Westbadestrand gehen. Dort scheint einiges los zu sein“, sagte Winnetou. „Aber vorher gehe ich noch ins Hotel und hole meine Klampfe.“
„Gute Idee“, sagte Lübbert und ergänzte: „Vielleicht kriege ich diesen Walzer dann endlich aus den Ohren. Wenn ich nämlich jetzt nicht bald andere Musik zu hören kriege, dann verfolgt mich dieser Geigenterror noch mindestens drei bis vier Tage.“
Zwischen Muskeln und Haute Couture
Die kurzgeschnittenen kupferroten Haare ließen die Frau streng erscheinen, fast unnahbar. Auf den Lippen funkelte das auf die Haarfarbe abgestimmte, üppig aufgetragene Lipgloss. Der Küchentisch stand direkt vor der außergewöhnlich breiten Fensterfront, das Silberbesteck darauf reflektierte die einfallenden Sonnenstrahlen. Auf dem Tisch befanden sich die Reste des Frühstücks: zwei zusammengerollte Scheiben Kochschinken, Butterkäse, Brötchenkrümel, Marmelade und Eierschalen auf weißer und bordeauxroter Tischdecke. Sie saß auf einem Designerstuhl, dessen Beine der Künstler in mattem Stahl kreiert hatte und dessen lederner Sitz in Altrosa ebenso exquisit wie gewöhnungsbedürftig wirkte. Ihre eigenen Beine hatte die Mittvierzigerin übereinandergeschlagen. Sie trug einen kurzen, anthrazitfarbenen Rock mit silbern schimmernden Nadelstreifen, dazu schlichte, jedoch extrem hochhackige schwarze Wildlederpumps. Ihre cremefarbene Bluse aus Seide war im Dekolleté großzügig geschnitten. Vor ihr stand ein Kaffeebecher. Er war bis zum Rand gefüllt. Sie rauchte. Gent Visser war aufgefallen, dass die Witwe von Onno Aden makellos geschminkt war. Sie schaute klar aus den Augen, wenngleich sie den Blick gesenkt hatte und dieser dabei ins Leere ging. Sie schien unter Schock zu stehen. Offenbar war sie nicht einmal in der Lage zu weinen. Andererseits wunderte sich Visser, dass sie die Ruhe besessen hatte, sich an einem solch brutal daherkommenden Morgen derart aufgedonnert zu präsentieren.
Die Nachricht vom plötzlichen Tod ihres Mannes hatte sie schließlich erst vor rund drei Stunden erhalten. Unmittelbar nach der ersten Spurensicherung musste Neumann sie aus dem Bett klingeln. Sie hatte die Nachricht schweigend zur Kenntnis genommen, den Atem kurz angehalten und den Kollegen dann in regelrecht geschäftsmäßiger Art und Weise gebeten, unten auf der Hotel-Veranda Platz zu nehmen, bis sie für den Tag gerichtet sei. Da Neumann rauchen wollte, wartete er draußen vor der Eingangstür, während sie ihre Morgentoilette vornahm und frühstückte. Offenbar allein. Kein Mensch hatte – zumindest während dieser Zeit – das Haus betreten; kein Verwandter, kein Freund, kein Gast.
Während Neumann draußen vor dem Hotel wartete, tat Visser das, was er tun musste: Er informierte die Polizeiinspektion in Aurich, woraufhin sich auf der Stelle sechs Beamte in Zivil in einem Mannschaftsbus auf den Weg nach Norderney machten. Die Leitung übernahm Hauptkommissar Carlo Faust, Kraftsportler, Faustballer, Dauerläufer, Dreitagebartträger und zehn Jahre jünger als Visser. Visser kannte ihn. Seit vielen Jahren. Doch immer, wenn die Rede auf Faust kam, wechselte Visser das Thema; manchmal sogar die Gesichtsfarbe.
Faust hatte nicht im Traum daran gedacht, gemeinsam mit den Kollegen im Mannschaftsbus anzureisen. Er schwebte bereits nach knapp einer Stunde mit dem Hubschrauber ein. Er ließ sich vom Piloten auf dem freien Gelände vor Riffkieker und Surfcafé absetzen. Von dort aus waren es nur ein paar Schritte bis zum Fundort der Leiche. Man gönnt sich ja sonst nichts, dachte Visser, als er den vorgesetzten Kollegen in Empfang nahm und ihm eine Schnelleinweisung gab. Nachdem Faust sich ein Bild von der Lage gemacht hatte, trat er vom Minigolfplatz vor das Absperrband. Dann öffnete er den Reißverschluss seiner Bomberjacke, schob die Brust vor und stemmte die Hände in die Hüften, so dass der Jackenbund von den Daumen am Rücken festgehalten wurde. Niemandem, der diese Stelle passierte, sollte der Anblick seiner Smith &
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