Norderney-Bunker
schätzten, würden das mitbekommen. Selbst als Straßenmusiker würde er kein Bein mehr auf den Boden bekommen.
Er versuchte zu verstehen, was es bedeutete, hierhergekommen zu sein, auf diese Insel. Hatte sein Schicksal das so gewollt? Gab es überhaupt Zufälle im Leben? Fest stand nur, dass er sich von Lübbert in diese Sache hatte hineinziehen lassen. Aber das war mal wieder typisch für ihn, für sein ganzes Leben. Wie oft hatte er schon derart unentschlossen gehandelt. Der liebe, gutgläubige, harmoniebedürftige Paul-Karl. Typisch für ihn. Sollte hier auf Norderney die Reise, die Odyssee seines Lebens, enden?, fragte er sich. Was jetzt noch blieb, war vielleicht nur noch das Nachwort, ein schnöder Epilog, ein dürftiger Abgesang auf sein Leben. Winnetou war klar: Mit Lübberts Los hätte er sich besser eine Zigarette angesteckt oder sonst jemanden froh gemacht.
Mittlerweile war es so dunkel, dass man all die Muscheln am Strand kaum noch erkennen konnte. Manche, die vom nun rasch auflaufenden Wasser bereits wieder nass waren, reflektierten im Mondlicht, das den Norderneyer Nordstrand in mystischen Glanz hüllte. Ein Paradies für nach Stille lechzende Urlauber und Liebespaare, dachte Winnetou, der aus seinem dunklen Gedankentraum erwacht war und die Umgebung endlich wieder zur Kenntnis nahm. So bemerkte er auch wieder, dass die Brandung nun noch heftiger schnaubte und schnaufte, die Wellen immer bedrohlicher Richtung Dünenwände rollten und er sich sputen musste, wollte er trockenen Fußes hinaufsteigen durch den tiefen Sand in die Dünenschneise, die zum östlichen Stadtrand führte. Lübbert hatte diese Stelle des Strandaufgangs längst erreicht. Er winkte Winnetou mit weit ausholenden Armbewegungen zu.
Als Winnetou zu Lübbert aufgeschlossen hatte, musste er erst einmal tüchtig durchschnaufen. Beide drehten sich noch einmal um, blickten hinunter zum Spülsaum, der immer näher kam und immer wilder aufschäumte. Am Horizont war die Sonne längst ins Meer getaucht. Nur noch der Mond spendete Licht – nicht besonders viel heute Abend, aber es reichte, um ohne zu straucheln die Lippestraße zu erreichen.
„Jetzt ganz leise sein, nicht mehr reden und auf Tuchfühlung bleiben“, befahl Lübbert im Flüsterton.
Dann bogen sie in die Nordhelmstraße ein. In den meisten Häusern waren die Lichter bereits erloschen. Nur hinter wenigen Fensterscheiben sah man Bewohner, die ein Brettspiel spielten oder einen Skat droschen. Aus anderen Fenstern blitzte und zuckte unruhiges, blau-gelbes Fernsehlicht bis auf den Bürgersteig hinaus. Als sie an der schmalen Gasse an der rückwärtigen Elbestraße angelangt waren, fuhr Lübbert zusammen. Von hinten näherten sich Radfahrer, deren Dynamos wie Sirenen die Stille zerschnitten. Lübbert fasste Winnetou am Handgelenk und zog ihn hinter eine Thujahecke, die ihnen Schutz vor den Blicken der Männer bieten sollte. Als sie näher kamen und das Licht der Scheinwerfer die gepflasterte Fahrbahn notdürftig anleuchtete, hörten Winnetou und Lübbert, dass sich die Männer auf Plattdeutsch unterhielten – äußerst lautstark. Zuerst dachten sie, sie stritten sich, doch dann merkten sie, dass es wohl um Politik ging.
„De in ’t Rathuus maken, wat se willen!“, schimpfte der eine, und schon waren sie mit ihren Rädern um die Ecke gebogen.
„So, die Luft ist wieder rein“, flüsterte Lübbert, packte Winnetou erneut am Handgelenk und zog ihn hinter sich her durch die Gasse. Trotz der Dunkelheit konnte man erkennen, dass es sich hier um eine sehr gepflegte Wohngegend handelte, dicht bebaut, überall Blumenkübel mit Balkonpflanzen und mit Stauden dicht bewachsene Beete in schmalen Vorgärten. Gegenüber einem der Häuser schob Lübbert den Riegel eines Eisentors zurück, um in den Garten mit dem kleinen Gewächshaus zu gelangen. Das Quietschen des Riegels ging Winnetou durch Mark und Bein. Als hinter einem Fenster im gegenüberliegenden Haus im gleichen Moment Licht anging, fuhr auch Lübbert zusammen. Er bückte sich und schlich hinter das Gewächshaus. Winnetou folgte ihm. Er spürte, dass auch Lübbert aufgeregt sein musste, denn er roch seinen Schweiß, der von einer gewissen Angst resultieren musste. Außerdem atmete er schwer und unrhythmisch.
Als das Licht erlosch und die Klospülung endgültig Entwarnung gab, zeigte Lübbert auf eine mit Efeu dicht bewachsene Wand. Dort galt es nur noch, die arg angerostete, klobige und vermutlich tonnenschwere Tür aus Stahl zu
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