Norderney-Bunker
kann es durchaus sein, dass der oder die Täter die Insel bereits verlassen haben“, gab Gent zurück, der sich wunderte, dass sein Kumpel so perfekt im Bilde war.
„Sie sind noch auf der Insel. Johann und Süntke hatten heute Morgen Dienst an der Abfertigung. Denen wäre bei der Kartenkontrolle etwas aufgefallen. Auf die kannst du dich verlassen. Denen geht kein Fremder durch die Lappen. Ich habe eben noch mit Johann gesprochen. Der ist auch felsenfest davon überzeugt, dass die Verbrecher noch unter uns sind.“
Je länger er seinem Freund Hinni zuhörte, desto klarer wurde Gent, wie brisant die Stimmung auf der Insel zwischenzeitlich geworden war. Die Leute hatten offenbar mehr Angst, als er dachte.
„Hör zu, Hinni“, sagte Gent und griff wie automatisch nach der dessen Zigarettenschachtel. „Natürlich haben wir Johann und Süntke heute Morgen auch gleich vernommen. Aber es besteht immerhin noch die Möglichkeit, dass sich der Täter zum Beispiel auf der Ladefläche eine Lastwagens versteckt hatte und auf diese Weise Norderney verlassen hat.“
„Also ich habe gehört, dass etliche Eltern ihre Kinder morgen mit dem Auto zur Schule bringen wollen“, griff nun Thomas, der zwischenzeitlich gekommen war, in die Unterhaltung ein. Dann orderte er ein helles Weizen und nahm den Faden wieder auf: „Die Stimmung ist wie vor zwei Jahren, als der Kellner um die Ecke gebracht wurde. Die Leute schieben riesige Angst. Wenn ihr den Fall nicht ganz flott löst, bricht hier die Panik aus.“
„Ich bin ja mal gespannt, was die Zeitungen morgen schreiben. Bei der Mayer-Lübbecke von der Badezeitung brannte eben noch Licht. Die wird den Griffel mal wieder ordentlich gespitzt haben“, sagte Hinni und leerte sein Glas in einem Zuge.
Zum Kartenspielen kamen die Männer an diesem Abend nicht. Der Mord an Onno Aden dominierte das Geschehen an allen Tischen und an der kompletten Theke. Gent wusste, dass er dieses Brett, so dick es auch sein mochte, schnell bohren musste. Sehr schnell sogar. Sonst würde ihm und mit ihm seinem Kollegen Faust die Sache hier auf Norderney dieses Mal entgleiten.
Im alten, mit Gras und zahllosen Rankpflanzen zugewachsenen Luftschutzbunker an der Elbestraße hatten Winnetou und Lübbert es sich derweil fürs Erste bequem gemacht – wenn man das so nennen konnte. Aus einem Stapel billiger, ineinander gekeilter Plastikgartenstühle hatten sie sich die beiden besten herausgenommen und an den kleinen runden Tisch gestellt, der an der Seite neben dem Straßenbesen stand. Die fingerdicke Staubschicht wischte Lübbert mit dem Ärmel weg, die Spinne, die er dabei aufgescheucht hatte, schnippte er per Mittelfinger kurzerhand vom Tisch. Sie landete an der Wand, wo sie jedoch sofort Halt fand und mit kurzen, schnellen Bewegungen einen Meter nach oben krabbelte, um dann hinter dem Spalt eines Türrahmens zu verschwinden.
Wenn es von dem Begriff Stille jemals eine Steigerung gegeben haben sollte – an dieser Stelle war der Superlativ ultimativ erreicht. Leiser ging es wirklich nicht. Kein Laut drang in den Bunker hinein, selbst das Rauschen des Meeres, ansonsten auf der Insel omnipräsent, fand in diesem Weltkriegsrelikt sein akustisches Finale. Lübbert und Winnetou ließen die neue Situation zunächst einmal auf sich wirken. Beiden knurrte der Magen. Erst gluckste es bei Winnetou, wenige Sekunden später gluckerte es bei Lübbert; ein Umstand, der Winnetou seit etlichen Stunden endlich noch einmal ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Beide wussten, was Sache war. Das Hauptproblem im Moment: Sie hatten Hunger bis unter beide, besser gesagt bis unter alle vier Arme. Wie sie ihn auf die Schnelle abstellen konnten, wussten sie allerdings nicht. Noch nicht. Also konnten sie zunächst in Ruhe weiter schweigen.
Winnetou nutzte die Gelegenheit, sich im neuen Feriendomizil umzuschauen. Die Fläche des Hauptraums schätzte er auf 40 bis 45 Quadratmeter. Drei ein Meter dicke Gewölbebögen stützten die tonnenschwere Betondecke, die die Insulaner in der Norderneyer Nordhelmsiedlung während des Zweiten Weltkriegs vor dem Schlimmsten hatte bewahren sollen. Das Gewölbe sowie die sauber verputze Decke schienen absolut trocken, zumindest fanden sich keine auffälligen, feuchten Stellen. Außerdem mussten vor nicht allzu langer Zeit die Wände weiß getüncht worden sein. Derjenige, dem dieses Gebäude gehörte, schien Ordnungsliebe auf der Visitenkarte aufgedruckt zu haben. Auch von einem modrigen Geruch konnte
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