Norderney-Bunker
versetzt. Auch dieses Mal konnte die mit 26 Kameraden sowie mit der Drehleiter angerückte Wehr unverrichteter Dinge den Rückweg antreten.
„Scheint ja ansonsten relativ ruhig zu sein auf der Insel im Moment“, flachste Lübbert und biss herzhaft in sein dick mit Erdbeermarmelade bestrichenes Frühstücksbrötchen.
„Dann frage ich mich, warum alle die Feuerwehr- und Polizeiautos in Richtung Insel-Osten rasen“, antwortete Winnetou, als der Radiosprecher das Programm unterbrach.
„Verehrte Zuhörinnen und Zuhörer von Radio SWS. Wir unterbrechen unsere Sendung für eine Eilmeldung. Nach unseren Informationen hat sich am Morgen am Leuchtturm von Norderney ein tragischer Unglücksfall ereignet. Alle Rettungskräfte der Insel befinden sich in diesen Minuten auf dem Weg zum Einsatzort. Über die genauen Umstände ist noch nichts bekannt. Wir informieren Sie selbstverständlich, sobald wir Näheres erfahren.“
„Ist ja wie in der Großstadt hier“, lästerte Lübbert weiter.
Winnetou fand das weniger lustig. Zwar genoss auch er das Frühstück und vor allem den Kaffee, der ihm in den vergangenen beiden Tagen so sehr gefehlt hatte. Dennoch sah man ihm an, dass er wieder nachdenklich wurde.
„Was ist los, großer Apache?“, fragte Lübbert.
Winnetou schluckte den letzten Bissen seines Brötchens hinunter und antwortete: „Ich denke, wir sollten uns stellen. Überleg mal. Wir haben doch keine Chance. Wir kommen niemals ungesehen von der Insel runter.“
„Junge, nun schieb mal keine Panik.“ Lübbert war vom Stuhl aufgestanden und hatte die Rollläden am Küchenfenster einen Spalt breit hochgezogen. Dann bückte er sich und linste durch den Schlitz in der Hoffnung, vielleicht bereits ein zurückfahrendes Einsatzfahrzeug zu sehen.
Endlich drehte er sich wieder Winnetou zu und sagte: „Natürlich hast du recht. Aber ich will mich nicht stellen. Zumindest noch nicht. Ich habe Angst davor. Außerdem: Im Moment geht es uns ja noch gut.“
Winnetou schwieg. Er hörte im Radio Roman Lobs „Standing Still“ und blickte verträumt Richtung Kühlschrank. Lübbert trat auf ihn zu. Er zwinkerte ihn an. „Weißt du was“, sagte er dann. „Wir schauen uns hier jetzt noch einmal gründlich um, decken uns für die nächsten Tage mit leckerem Essen und Getränken ein und genießen die Zeit. Heute Abend machen wir es uns im Bunker wieder gemütlich. Ich schneide dir die Haare, du färbst mir meine Borsten und vor allem die Augenbrauen. Dann setzen wir uns einen Hut auf und gehen morgen mal fein aus.“
Winnetou entfuhr nun ein lautes Lachen. „Lübbert. Du bist wahnsinnig. Aber okay. Wahrscheinlich hast du wirklich recht.“
„Siehste“, entgegnete Lübbert zufrieden. „So will ich dich hören, großer Häuptling. Außerdem beginnt morgen auf dem Kurplatz das Weinfest. Das sollten wir uns nicht entgehen lassen.“
Als Faust die letzte Stufe auf dem Weg zur Leuchtturmspitze genommen hatte, fühlte er sich so erschöpft wie noch nie in seinem Leben. Aus seinem Mund kamen merkwürdige Pfeiftöne, seine Lunge schmerzte. Obwohl er ein geübter Langstreckenläufer war und regelmäßig im Auricher Fitnesscenter Sport trieb, brachte ihn die Leuchtturmbesteigung an diesem Morgen an den Rand seiner Leistungsfähigkeit. Nicht anders ging es Gent Visser. Der saß auf der Plattform neben Gerriet Fuhrmann, dem Sohn des Leuchtturmwärters. Beide waren kreidebleich und atmeten schwer. Die Leiche, die vor ihnen lag, war bereits steif. Die Wunde am Hals stammte mit hundertprozentiger Sicherheit von einem Messer, das zielgerichtet angesetzt worden war, überlegte Faust.
„Ist das nicht die vorlaute Reporterin von neulich?“, fragte Faust, als er wieder in der Lage war zu reden.
Gent nickte. „Ja. Das ist Karin Mayer-Lübbecke, Redakteurin der Norderneyer Badezeitung .
Visser wandte sich dem Leuchtturmwärtersohn zu, der wie ein Häufchen Elend am Eisengeländer kauerte und fror.
„Du kannst jetzt gehen, bevor die Leute von der Spusi kommen und es hier oben so richtig eng wird, Gerriet. Du musst aber damit rechnen, dass wir dich heute noch vernehmen. Halte dich bitte bereit.“
Fuhrmann rappelte sich auf. Die ersten dreißig, vierzig Stufen hielt er sich mit beiden Händen am Geländer fest. Erst danach wagte er es, mit zitternden Knien seinen vertrauten Abstiegsrhythmus aufzunehmen. Unten erwartete ihn sein Vater. Der hatte ihm gerade anerkennend und tröstend auf die Schulter klopfen wollen, da entließ
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