Norderney-Bunker
der Sohn des Leuchtturmwärters, eines alten Mannes, der in einem kleinen, einsamen Haus im Osten der Insel unweit des Norderneyer Wahrzeichens lebte. Dem war am Morgen aufgefallen, dass die Tür zu den 252 Stufen offen stand; ein Umstand, der in all den 47 Jahren, in denen er die Verantwortung für seinen Leuchtturm trug, noch nie eingetreten war. Der Bitte seines alten Herrn, mal eben hinaufzuklettern und nach dem Rechten zu sehen, kam Gerriet nur zögerlich nach. Immerhin hatte er den Speditionslaster ordentlich gefüllt, bis 14 Uhr musste die Ladung auf der Insel verteilt sein.
Nachdem er die Tür und den Eingangsbereich gründlich inspiziert und keinerlei Auffälligkeiten vorgefunden hatte, nahm er die ersten Stufen. Da er sich heute etwas schlapp fühlte und sein Magen nicht ganz in Ordnung zu sein schien, beschloss er, trotz des Zeitdrucks in der Firma nichts zu überstürzen. Schließlich sollte es ihm nicht so gehen, wie dem Feriengast aus Süddeutschland, der vor einigen Jahren mit seinem Enkelkind den Turm bestiegen hatte und kurz nach der Ankunft auf der Plattform tot umgefallen war. Also versuchte er, einen auf diesen Morgen speziell abgestimmten Aufstiegsrhythmus zu erlangen, der ihn und seinen Kreislauf sicher nach oben führte.
Am ersten Fenster legte er eine kleine Pause ein. Von dort aus hatte man bereits einen famosen Blick über die komplette Insel und auf das Festland. Natürlich konnte man bei gutem Wetter auch die Nachbarinseln sehen, manchmal sogar Helgoland. Der Blick über die bizarre Dünenlandschaft Richtung Ostspitze mit dem legendären Schiffswrack aus den Sechzigerjahren erinnerte ihn an seinen letzten Fußmarsch in die pittoreske Einsamkeit der Insel. Es war ein Tag, an dem er allein sein wollte. Er musste zu sich selbst finden. Stille hören. Regelrecht abseitige Wünsche fern eines Alltags, der an ihm nagte, sich in die Seele hineinbohrte und sie zu fressen drohte wie ein Geschwür. Sehnsucht nach Entfernung, nach Weite, nach Aufräumen. Ein Stück innere Reinigung. Sich selbst bewusst erleben. Ja, das war sein Ziel. Dass die Dünenlandschaft zunächst so unwirklich auf ihn wirkte, empfand er als Vorbote eines unvergesslichen Erlebnisses. Da nahm er kaum noch wahr, dass in den Dünentälern der Blick zum Meer abhanden gekommen war. Die Rast an der alten Möwenbake gestattete ihm nicht nur Erholung, sondern auch einen Blick in seine Seele. Ein mächtiger Knall riss Gerriet aus seinem Tagtraum. Das martialische Geräusch musste von unten kommen. Er erschrak und fühlte, wie sein Herz in der Brust pochte.
„Vater, bist du es?“, rief er mit zitternder Stimme. Doch eine Antwort blieb aus. Gleichzeitig zogen Wolken auf. In Sekundenschnelle verdunkelte sich der Himmel und der Wind nahm mächtig Fahrt auf. „Sicher ist nur die Tür durch einen Luftzug zugeschlagen worden“, überlegte Gerriet und schaute nach, ob er sein Handy dabei hatte. Auch auf den weiteren Stufen Richtung Leuchtturmspitze krallte sich dennoch ein ungutes Gefühl in Gerriet Fuhrmann fest. Er konnte sich dieses Gefühl nicht erklären, wo er den Leuchtturm in seinem Leben doch bereits unzählige Male bestiegen hatte – auch allein. Doch je höher er stieg, desto sorgenvoller blickte er nach unten. Ob ihm jemand folgte?
Als Gent am anderen Morgen aufwachte, fand er sich auf dem Sofa wieder. Es war bereits hell, und draußen wehte ein ordentlicher Nordwest. Die Tatsache, dass die Pendeluhr neben dem Leuchtturmmotiv von Ole West kurz nach Sieben anzeigte, beruhigte ihn ungemein. Er hatte also nicht verschlafen und konnte pünktlich zum Dienst erscheinen. Die Weckfunktion seines Handys hatte er auf 6.30 Uhr gestellt; doch die schien er überhört zu haben. Als er sich darüber klar wurde, dass er gestern Abend gemeinsam mit Faust gewaltig über die Stränge geschlagen hatte, empfand er tiefe Reue. Auf der Stelle begann sein Gewissen an ihm zu nagen, bei näherer Betrachtung der Dinge schämte er sich sogar für sein Verhalten; besonders vor Frauke, die sich doch so viele Sorgen um ihn machte und wirklich alles dafür tat, damit es ihm gut ging. Das schlechte Gewissen war in diesen Momenten des Aufwachens sogar noch stärker als die Kopfschmerzen, die ihn nun überfallartig in Beschlag nahmen. Und auch das Gluckern, Knurren und Murmeln in seinem Magen war nichts gegen die Gewissensbisse, die sich in sein schuldgeschütteltes Hirn hineinbohrten wie eine Schraube in ein Kantholz. Einmal abgesehen davon, dass er nicht
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