Norderney-Bunker
Visser benötigte ein paar Sätze, um festzustellen, dass es sich da um Hanno Bayer handelte, den Inspektionschef aus Aurich.
„Die Soko wird ab sofort auf 16 Leute erhöht. Die Kollegen sind bereits in Marsch gesetzt. Besorgen Sie entsprechende Räume. Wir müssen davon ausgehen, dass der Mörder sich noch auf der Insel befindet.“
Faust holte Luft, um seinem Vorgesetzten zu antworten, und da hob der erneut an: „Im LKA wird unsere Arbeit sehr genau verfolgt. Ich stehe in ständigem Mail-Kontakt mit Hannover. Ich bin angehalten, alle Details zu melden. Diese Morde hier sind nicht in Pusemuckelsdorf passiert, sondern auf Norderney. Das ist – wie Sie wissen – die Insel, auf der früher Könige und Kaiser ihre Urlaube verbracht haben und heutzutage Bundespräsidenten und Minister. So etwas stachelt die Geilheit der Medien ungeheuer an, Herr Kollege“, zischte Bayer. „Und noch etwas, Faust. Die Angst der Insulaner wird immer größer. Morgen und übermorgen fällt die Schule aus. Die Eltern halten ihre Kinder zu Hause. Das alles wird in den nächsten Tagen bundesweit thematisiert. Tun Sie was, Faust!“
Faust verdrehte die Augen und schluckte. Warum, wusste er nicht: Aber er hatte sich an diesem Morgen ungeheuer gut im Griff. Visser nahm sich aus Fausts Schachtel eine Zigarette.
„Wir tun alles, was wir tun können, Herr Bayer“, sagte Faust nach einigen Sekunden knisternder Stille und ergänzte: „Ich halte Sie selbstverständlich auf dem Laufenden.“
Ein Blick aus dem Fenster verriet dem Soko-Chef, was in den folgenden Tagen auf ihn und sein Team zukommen würde. Die Übertragungswagen regionaler und überregionaler Fernsehsender bogen um die Ecke. Auch Visser schaute aus dem Fenster und beobachtete die Journalisten, Techniker – und die Schaulustigen.
„Ich müsste mich gewaltig täuschen. Aber irgendetwas in mir sagt, dass sich die Medienleute diesmal auf einen etwas längeren Aufenthalt auf Norderney eingestellt haben.“
Spätestens mit der Ermordung von Karin Mayer-Lübbecke war es für die Menschen auf Norderney zur Gewissheit geworden, dass der Mörder noch auf der Insel sein musste. Wie die Faust aufs Auge passte da das aktuelle Ermittlungsergebnis, wonach die beiden gesuchten und vom Hausmeister des Hotels Weißer Sand beschriebenen Männer tatsächlich mittlerweile in ihrem gewohnten Lebensumfeld vermisst wurden. Das galt, wie die Soko am Nachmittag nach der Ermordung von Karin Mayer-Lübbecke via Pressemitteilung bekannt gab, zunächst für den 37-jährigen Lübbert H. Saathoff, wohnhaft in Aurich, Oldersumer Straße. Der Geschäftsführer der Werbeagentur Pro-File, dem Insolvenzverschleppung vorgeworfen werde, sei seit mittlerweile sechs Tagen nicht mehr in seiner Firma gesehen worden. Der nicht vorbestrafte gelernte Informatiker habe zuletzt vermutlich einen dunklen Anzug getragen. Und: „Er ist auffallend schlank, etwa 1,85 Meter groß. Besonderes Merkmal: Er hat kurz geschnittene, extrem helle Haare und fast weiße Wimpern sowie auffallend viele Sommersprossen“, formulierte die Presseabteilung in Aurich.
Mittlerweile ebenfalls als vermisst gemeldet werde Paul-Karl May, hieß es weiter. Der in Aurich lebende Obdachlose sei 41 Jahre alt, ebenfalls zirka 1,90 Meter groß und leicht untersetzt. Bis vor sieben Jahren habe er in Köln gelebt und als Professor für Philosophie und Musikwissenschaften an der Universität gewirkt. Seit gut einem Jahr sei May vornehmlich im Stadtgebiet von Aurich unterwegs, und zwar als Straßenmusikant. Besonders auffällig seien seine langen, schwarzen Haare und seine im Gegensatz zu Saathoff dunkle Gesichtsfarbe. Außerdem trage er mitunter ein Stirnband. Aufgrund seines Aussehens werde May in Insiderkreisen „Winnetou“ genannt.
Leben und leben lassen
Gent streckte sich in seinem Schreibtischstuhl und gähnte. „Diesen Tag hatte ich mir etwas anders vorgestellt.“
Dunkle Ränder um die Augen und nervös zuckende Wimpern zeugten vom Stress der vergangenen Stunden.
„Wenn mich etwas fürchterlich nervt, dann sind es Pressekonferenzen. 40 Prozent der Fragen sind unnötig und dienen nur der Wichtigtuerei“, sagte er.
Faust lachte: „Nun mach aber mal halblang. Und nichts für ungut: So viele Pressekonferenzen hast du hier auf der Insel ja wohl noch nicht gehabt. Außerdem sind diese Veranstaltungen oft sehr nützlich. Einerseits bringen sie uns Zeugen und Hinweise, andererseits halten sie uns die Pressefuzzis für die nächsten Tage vom
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