Norderney-Bunker
Gerriet seinen Mageninhalt in zwei kräftigen, krampfartigen Zügen auf den Stufen vor dem Turmeingang.
„Das ist aber kein netter Empfang“, witzelte ein Polizeibeamter in Zivil, der zur gleichen Zeit gemeinsam mit drei Männern und einer Frau, alle ausgestattet mit Alu-Koffern und schusssicheren Westen, den Eingangsbereich betrat. Dort schaute sich der Polizist irritiert um.
„Ach so. Die Leiche ist tatsächlich oben. Ganz oben?“
Gerriet blickte zurück und nahm den Spusi-Mann ins Visier. Dann sagte er: „Ja. Es tut mir schrecklich leid. Ganz oben. Aber keine Sorge. Verlaufen hat sich bislang noch niemand!“
Gut eine halbe Stunde später verließen Visser und Faust den Tatort. Die Kollegen von der Norderneyer Polizeistation hatten den Bereich um den Leuchtturm mit rot-weißem Trassierband großzügig abgesperrt. Das galt sowohl für die Urlauber, die sich am Vormittag bereits im Osten der Insel aufhielten, als auch für die wenigen Einheimischen, die in dieser Gegend wohnten oder dort gerade etwas zu tun hatten. Ansonsten war die Sicherheitslage nun extrem angespannt, was sich darin äußerte, dass die Straße Richtung Leuchtturm bereits an der Kreuzung Weiße Düne abgeriegelt wurde. Dort hatte die Feuerwehr ein Löschfahrzeug quer gestellt und vier Kameraden postiert. Zusammen mit zwei Insel-Polizisten passten sie auf, dass über diese Straße kein Auto in den leisen Teil Norderneys fahren konnte.
Trotzdem war es nicht zu verhindern, dass die lokalen Pressevertreter vordrangen. Sie standen vor dem Leuchtturm am Absperrband, fotografierten das Norderneyer Wahrzeichen, den Leichenwagen und die Polizeiautos; mehr war momentan nicht zu holen.
Als Faust und Visser zu ihren Wagen liefen, traten die Lokalreporter dann sogar vor die Absperrung. Der Kollege vom Ostfriesischen Kurier ging gezielt auf Visser zu, weil er ihn wesentlich besser kannte als den Soko-Chef. Der Reporter des lokalen Sturmwellensenders folgte ihm und hielt Visser ein Mikrofon vor den Mund.
„Wir sind live drauf“, sagte er, da hob Visser zur Überraschung der Reporter mit einer Erklärung an, ohne, dass sie eine Frage gestellt hatten.
„Also, Leute. Ist ja klar, dass am Nachmittag noch eine Pressekonferenz stattfinden und die ganze Insel dann wieder voller Medienleute sein wird. Aber für euch vorab Folgendes: Mit höchster Wahrscheinlichkeit haben wir es hier mit einem weiteren Mordfall zu tun. Dort oben auf dem Leuchtturm ist am Morgen die Leiche von Karin gefunden worden. Karin Mayer-Lübbecke, Ihre Kollegin von der Badezeitung . Über die näheren Umstände wissen wir noch nichts. Die Spurensicherung ist bei der Arbeit."
„Wie ist das passiert?“, wollte der Kurier-Reporter wissen.
„Wenn wir das wüssten…“, antwortete Visser gedehnt und schaute rauf zum Leuchtturm . Auch ihm war das Ereignis auf den Magen geschlagen. Das konnte ihm nicht egal sein. Besonders persönlich. Dafür kannte er die Journalistin nun doch schon zu lange.
„Ich meine: Auf welche Weise ist sie umgebracht worden?“, hakte der Kurier-Mann nach.
„Wissen wir nicht“, gab Visser nun lapidar zurück. „In der Pressekonferenz werden Sie Näheres erfahren.“
Bevor Visser sich abwendete, warf er Habbo Eilers, der aschfahl im Gesicht war und der auf seinen staksigen Beinen hin- und herzuschwanken schien, einen Blick zu und bestellte ihn mit einer gezielten Kopfbewegung zu sich. Er wusste, dass Habbo mit der Ermordeten nicht nur in der Zeitungsredaktion zusammenarbeitete, sondern auch, dass sie befreundet waren.
„Habbo. Wann hast du sie zuletzt gesehen?“
„Gestern Abend. Gegen zehn.“
„Kannst du mir mehr sagen?“, fragte er leise. Visser merkte, dass sich der Blick des jungen Reporters immer mehr verlor.
„Sie war bei mir. Wir saßen auf der Couch. Ihr Handy klingelte. Sie stand auf ….“
Habbo Eilers brachte diesen Satz nicht mehr zu Ende. Er verdrehte die Augen, schnaufte einmal schwer und sackte in sich zusammen. Es gelang Visser gerade noch, ihn aufzufangen. Die Rettungsassistenten von Promedica schienen den Zusammenbruch beobachtet zu haben. Sie kümmerten sich sofort um Habbo.
Als Visser im Soko-Büro am Kurplatz eintraf, fand er Carlo Faust mit hochrotem Kopf vor. Er hielt den Telefonhörer ans Ohr und hatte die Augen geschlossen. Als er bemerkte, dass Visser eintrat, stellte er das Telefon auf Mithören.
„Das ist nun eine neue Dimension, Herr Faust“, vernahm er eine schneidende Stimme am anderen Ende der Leitung.
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