Norderney-Bunker
mehr wusste, wie viele Biere und Ramazotti durch die Kehle geflossen waren, machten sich vom Magen her und auf der pelzigen Zunge eindeutige Indizien dafür breit, dass er geraucht hatte. Als er dann die Schachtel Marlboro neben sich auf dem Wohnzimmertisch sah, schloss er die Augen. Während sich sein Wunsch, jetzt nichts mehr denken zu müssen und stattdessen geräuschlos im Erdboden zu versinken, verfestigte, klopfte es vorsichtig an der Tür.
„Na, Süßer. Gut geschlafen?“
Frauke war bereits angezogen und geschminkt, und aus dem Flur brachte sie den Duft von Brötchen und Kaffee mit in den miefigen Raum. Gent hielt die Augen geschlossen. Erst nach einigen Sekunden, als er Fraukes Hand auf der Wange und Stirn spürte, wagte er es, ein Auge zu öffnen und seine Frau anzublinzeln. Frauke lächelte ihn an und küsste ihn auf die Wange. Als Gent seinen Hundeblick aufsetzte, der dieses Mal jedoch keineswegs inszeniert wirkte, sagte sie: „Komm, mein Schatz. Wir frühstücken jetzt in aller Ruhe. Und dann nimmst du dein Rad und fährst ganz vorsichtig zur Arbeit.“
„Bist du mir böse?“, murmelte Gent.
„Wie könnte ich dir böse sein, Gent?“
„Wie meinst du das?“
„Danke für die Rosen, die du mir in der vergangenen Nacht vors Bett gelegt hast und in die ich prompt hineingetreten bin, als dein Schnarchen das Haus erschütterte. Ich vermute, du hast die Blumen bei den Nachbarn am Spalier geklaut. Hoffentlich hat dich keiner gesehen; sonst kriegst du es am Ende noch mit der Polizei zu tun.“
Gent fasste sich an den Kopf, Frauke presste die Lippen zusammen und lächelte. Dann sagte sie: „Du bist süß. Ich bin dir nicht böse. Ich kann dir gar nicht böse sein. Ich weiß ja, dass du dich wirklich bessern willst.“
Jetzt lächelte auch Gent – wenn auch ziemlich verlegen – und brummte: „Frauke, ich liebe dich.“
„Wir sind nur Gast auf Erden, und wandern ohne Ruh, mit mancherlei Beschwerden, der ewigen Heimat zu.“ Recht unambitioniert und bleiern klang der Gesang der wenigen Trauergäste, die Onno Aden die letzte Ehre erwiesen. Nicht mehr als fünfzig Bekannte, Offizielle und Familienangehörige waren zum Friedhof an die Jann-Berghaus-Straße gekommen, wo der katholische Pfarrer, der extra vom Festland angereist war, die Formalitäten des Begräbnisses ebenso geschäftsmäßig nüchtern wie souverän abwickelte. Trotz des verhangenen Himmels und etlicher regelrecht professionell den Augendrüsen abgerungener Tränen war die Parade der Sonnenbrillen das auffälligste Merkmal dieser Veranstaltung.
Zwar hätte Faust ohnehin ein getöntes Spekuliereisen aufgesetzt; doch gerade heute kam es ihm besonders entgegen, dass er seine Augen verdecken konnte. Die nämlich hinterließen zu dieser frühen Vormittagsstunde noch einen reichlich gläsernen wie geröteten – kurzum: versoffenen Eindruck. Er beobachtete die Szenerie aus der Ferne. Von der Begrenzungsmauer aus hatte er die Trauergäste und das ausgehobene Grab gut im Blick.
Besonders gefasst verhielt sich die Witwe. Sie verzog nicht eine Miene und entließ nicht einen einzigen Schluchzer. Unverrückbar aufrecht und stolz wie eine schwarze Madonna stand sie vor dem eichenen Sarg auf dem Norderneyer Gottesacker. Stattdessen fiel ihre Kleidung auf, die man durchaus – gemessen am Anlass – als gewagt bezeichnen konnte. Juliane Aden trug einen schwarzen Hut mit seitlicher Krempe und Netzschleier, ein zwar bis zum Hals geknöpftes Oberteil, dafür aber einen Rock, der den Blick bis auf die untere Oberschenkelpartie mit den schwarz gepunkteten Seidenstrümpfen großzügig freigab, dazu Pumps mit unverschämt hohen Absätzen. Spontan musste Faust an die Tätowierung Julianes denken, während er sich gleichzeitig die Frage stellte, ob sie den Reißverschluss denn dieses Mal wohl verschlossen habe.
Dann fiel sein Blick auf ein älteres Paar. Dabei handelte es sich um Julianes Eltern, die links und rechts neben ihr standen und vor sich hin starrten. Sie hatten sogar auf Sonnenbrillen verzichtet, sodass ihren Gesichtsausdrücken Gleichgültigkeit, Langeweile und Apathie deutlich anzusehen war. Überhaupt: Die Verwandtschaft war spärlich angereist, ein älterer Bruder des Verstorbenen vom Festland war zugegen, außerdem lediglich zwei Tanten mütterlicherseits. In gebührendem Abstand hatten sich die engsten Hotelangestellten versammelt: Paul Stiegel, der hochaufgeschossene Rezeptionist, Nicole Philipps, Auszubildende zur Hotelfachfrau,
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