Nordmord
Vogelschwarm!«
Er hielt an und wies mit seiner Hand auf die unzähligen Vögel
am Himmel.
»Es wird Abend. Sie verlassen die Insel.«
Sie hatte ebenfalls angehalten und blickte den Vögeln am
Himmel nach. »Angeblich ein Zeichen der Ungnade Wodans.«
»War das nicht der mit den beiden Raben?«
Sie nickte. »Hugin und Munin – das Gedächtnis und das
Gewissen.«
»Und wieso verlassen nun die Vögel die Insel?«
Er blickte fragend dem
immer kleiner werdenden Vogelschwarm hinterher.
Sie erklärte, dass es wohl eine Legende gab, der zufolge die
Vögel Amrum am Abend verließen als Zeichen für Gottes Missfallen.
»Was sollte Gott denn an dieser wundervollen Insel
missfallen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube, das hing mit den Strandräubern zusammen, aber so
genau erinnere ich mich nicht mehr.«
Marlene stieg wieder auf ihr Fahrrad. Er warf einen letzten
Blick zum Himmel, ehe er ihr folgte.
Als sie Norddorf und schließlich das Hotel erreichten, war es
bereits dunkel. Sie hatten das Licht an den Fahrrädern anschalten müssen.
Die freundliche Dame an der Rezeption lächelte, als sie nach
dem Zimmerschlüssel verlangten.
»Einen Moment, Herr Meissner, hier ist eine Nachricht für
Sie. Herr Haie Ketelsen hat dringend um einen Rückruf gebeten.«
Haie hatte
zunächst versucht, Tom auf seinem Handy zu erreichen. Aber es war nur die
Mailbox angesprungen.
Da er seinen Freund nicht hatte beunruhigen wollen und ja
auch eigentlich nichts Konkretes wusste, hatte er aufgelegt.
Aber die Angelegenheit hatte ihm keine Ruhe gelassen. Wie ein
eingesperrtes Tier war er durch seine kleine Wohnung getigert. Schließlich
hatte er versucht, bei der Polizei Genaueres zu erfahren, aber der freundliche
Polizist am anderen Ende der Leitung hatte keine Auskünfte erteilen dürfen. Das
hatte seine Unruhe noch verstärkt. Letzten Endes hatte er im Hotel angerufen.
»Herr Meissner ist leider nicht im Hause. Möchten Sie
vielleicht eine Nachricht hinterlassen?«
Er saß in seinem Wohnzimmer und versuchte, sich durch ein
wenig Fernsehen abzulenken. Immer wieder zuckte sein Finger auf der
Fernbedienung hin und her.
Endlich klingelte das Telefon.
»Tom? Na endlich!«
Er wartete seine Antwort gar nicht ab, sondern berichtete
sofort aufgeregt über die Neuigkeiten aus dem Dorf.
»Ich weiß ja nicht, ich meine, aber vielleicht …«
Er hörte, wie Tom am
anderen Ende tief Luft holte und im Hintergrund Marlenes besorgte Stimme: »Was
ist?«
Er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Am liebsten wollte
er jetzt bei seinen Freunden sein. Wenn die Tote aus der Lecker Au wirklich
Marlenes Freundin war – er wollte sich das gar nicht vorstellen – aber wenn es
wirklich so sein sollte, dann wollte er für sie da sein. Sie kannten sich zwar
noch nicht lange, aber die Freundschaft, welche sie verband, war von ganz
besonderer Art, beinahe so etwas wie eine Seelenverwandtschaft, ganz besonders
zwischen ihm und Tom. Sie hatten sich vom ersten Tag an so gut verstanden, als
kannten sie sich bereits seit Jahren. So etwas hatte Haie noch nie erlebt.
Durch den Hörer klang ein Räuspern zu ihm.
»Dank dir. Ich werde mit Marlene sprechen. Wir kommen, so
schnell es geht, zurück.«
Nachdem Tom aufgelegt hatte, ließ auch er den Hörer langsam
auf das Telefon zurückgleiten. Unschlüssig darüber, was er nun tun sollte, ging
er in die Küche, holte eine Kornflasche aus dem Kühlschrank. Nachdem er das
erste Glas mit einem Schluck hinuntergestürzt hatte, goss er sich eilig noch
ein zweites ein.
Marlene blickte ihn mit ängstlichem Blick an.
»Nun sag schon! Was ist los? Warum wollte Haie dich so
dringend sprechen?«
Er hatte keine Ahnung, was er ihr sagen sollte. Theoretisch
konnte die Tote aus der Au jede x-beliebige Frau sein. Praktisch wusste er,
dass dem nicht so war. Ähnlich wie bei Haie hatte seine innere Stimme ihm
sofort gesagt, dass es sich bei der toten Frau höchstwahrscheinlich um Heike
handelte.
»Sie haben eine tote Frau in der Lecker Au gefunden.«
Sie starrte ihn wie versteinert an.
»Man weiß natürlich nicht …«, stammelte er etwas hilflos.
»Wir müssen sofort zurück!«
Sie wurde auf einmal völlig hektisch, eilte zum Schrank und
riss ihre Reisetasche aus dem untersten Fach. Panik hatte sie ergriffen.
Tom stand nur da und schaute ihrem verzweifelten Versuch zu,
der Angst und der aufkeimenden Furcht, dass die Tote Heike sein könnte, durch
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