Nordmord
möglich wäre, gemeinsam mit einem Kollegen ein Phantombild anzufertigen.
Plötzlich war sie sich unsicher. Wie sollte sie den Mann beschreiben? Hatte er
einen Vollbart oder nur einen Schnauzer getragen? Und die Augen? Der Kommissar
deutete ihr Zögern richtig.
»Wir können es ja einfach mal versuchen. Es ist nicht
schlimm, wenn es nicht klappt. Ich wollte ohnehin noch mit Ihnen sprechen.
Passt es Ihnen morgen? Sagen wir, gegen 11 Uhr?«
Da sie diese Woche nicht mehr vorhatte, ins Institut zu
fahren, sagte sie den Termin zu und legte auf. Ein Phantombild. Ob sie so etwas
überhaupt konnte? Sie erzählte Tom von der morgigen Verabredung. Er kannte
solche Zeichnungen bisher auch nur aus dem Fernsehen, versicherte ihr aber,
dass sie den Mann sicher gut beschreiben würde. Schließlich verfügte sie über
ein exzellentes Personengedächtnis. Das war ihm schon öfters aufgefallen.
Manchmal, wenn sie zusammen in Dagebüll spazieren gingen, erkannte Marlene
Leute aus dem Dorf. Ihm sagten die Gesichter meist nichts, aber sie konnte fast
immer etwas über die Person sagen. Wo sie wohnte, wie viele Kinder sie hatte,
was für ein Auto sie fuhr. Ihm fiel so etwas meist noch nicht einmal auf, aber
sie hatte ein besonderes Auge dafür.
Er brühte ihr einen weiteren Tee auf und versuchte, das
Gespräch auf ihre Eltern zu lenken.
»Kannten deine Eltern Heike?«
Sie nickte nur. In Gedanken schien sie immer noch bei dem
fremden Mann vom Friedhof und der bevorstehenden Phantomzeichnung zu sein.
»Wieso haben deine Eltern eigentlich einen anderen
Nachnamen?«
Er wollte mehr über Marlene und ihre Familie erfahren. Warum
machte sie so ein Geheimnis daraus, blockte ständig ab, wenn es um ihre Eltern
ging?
Diesmal war sie jedoch zu einer Antwort bereit. Vielleicht
lag es an der Melancholie, die sie aufgrund der Beerdigung verspürte,
vielleicht war es einfach sein liebevoller Blick, der sie zu einer Antwort
bewegte. Wie eine Knospe begann sie, sich langsam zu öffnen.
»Weil meine Mutter noch einmal geheiratet hat. Reiner Liebig
ist nicht mein leiblicher Vater. Mein Vater ist tot.«
24
Sie hatten
noch lange zusammen in der Küche gesessen. Marlene hatte von ihrer Kindheit
erzählt. Ihr leiblicher Vater war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie
konnte sich kaum an ihn erinnern. Eigentlich war sie mit ihrer Mutter immer
sehr glücklich gewesen. Und sie hatte geglaubt, es sei umgekehrt genauso. Dass
Gesine Schumann einsam war und extreme Geldnöte hatte, davon hatte sie nichts
mitbekommen. Sie war ein Kind gewesen und ihre Mutter hatte schon immer gut
schauspielern können. Irgendwann hatte sie Reiner Liebig kennengelernt.
Wahrscheinlich während sie als Aushilfe in der Reederei gejobbt hatte. Sie
hatte sich ihm geradezu an den Hals geworfen. Es hatte sie angewidert, wie ihre
Mutter versucht hatte, ihn für sich zu gewinnen. Das Wort ›widerlich‹ prägte
dabei ihre Erinnerungen. Und sie hatte immer das liebe, brave Mädchen spielen
müssen.
»Wir müssen Reiner dankbar sein, dass er uns bei sich
aufnimmt«, hatte ihre Mutter ihr eingetrichtert, als er um ihre Hand angehalten
hatte und sie zu ihm gezogen waren. Das Bild, welches sie von ihrer Mutter
gehabt hatte, war Tag für Tag ein wenig mehr verblasst. Aus Hochachtung war
Verachtung, aus Zuneigung Abneigung geworden. Die Beziehung zwischen ihnen war
immer kühler geworden. Marlene war nur noch ein Anhängsel gewesen und besonders
Reiner Liebig hatte sie das immer spüren lassen.
Tom war noch im Bad, als es an der Haustür
klingelte.
Es war Haie. Er war auf dem Weg zur Arbeit und wollte nur
kurz mal hören, wie es auf der Beerdigung gewesen war. Marlene erzählte ihm
sofort von dem Mann und dem Termin wegen der Phantombildzeichnung. Er
bedauerte, dass er arbeiten musste. Gerne hätte er die beiden begleitet.
»Elke hat mir übrigens erzählt, was im Dorf schon wieder so
getratscht wird.«
Tom zog seine rechte Augenbraue hoch und ließ sich von dem
angeblichen Serienmörder berichten. Er wusste, wie schnell sich Gerüchte im
Dorf verbreiteten, und schenkte wie Haie auch dem Tratsch wenig Aufmerksamkeit.
Den gestrigen Anruf und die angeblich umherschleichende Gestalt hielt er
ebenfalls für einen verzweifelten Versuch von Haies Exfrau, ihn an sich zu
binden. Er riet dem Freund, in nächster Zeit sämtliche gemeinsame
Unternehmungen einzustellen, auch die Besuche im Andersen-Haus.
»Sicherlich macht sie sich
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