Nordmord
bereits selbst an der Pinnwand über Heikes
Schreibtisch hängen sehen, aber keine Ahnung, wer das Kind war.
»Vielleicht ein Verwandter oder ein Patenkind?«
Sie nahm das Bild in die Hand und betrachtete es. Der Junge
war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, hatte braunes Haar und braune Augen.
Er lächelte, doch in seinem Blick lag Traurigkeit. Sie gab das Foto zurück und
schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung.«
Malte hatte seinen freien Tag. Er war gestern
Abend lange weg gewesen und lag noch verkatert im Bett.
Er griff nach der Fernbedienung, die neben dem Bett lag, und
zappte durch die Programme. Es schien, als gäbe es nur noch Talkshows. Fast
jeder Kanal hatte seine eigene Gesprächssendung, alle mit ähnlichen Themen: ›Du
hast mich betrogen – warum nur?‹ oder ›Nicht mit mir – heute rechne ich mit dir
ab!‹. Er griff nach der Marlboro-Schachtel und zündete sich eine Zigarette an.
Eine der Frauen in der
Show erinnerte ihn plötzlich an Heike und an den gestrigen Besuch des
Kommissars in der Klinik. Warum er wohl einfach wieder gegangen war? Angeblich
hatte er doch noch ein paar Fragen gehabt. Eigentlich war Malte ganz froh über
das Verschwinden des Polizisten gewesen, aber er fragte sich, ob man ihn wohl
verdächtigte? Immerhin wusste man über den Streit im ›Einstein‹ Bescheid. Und
seine Notlüge mit den erfundenen falschen Überstunden hatte man ihm sicherlich
auch nicht abgenommen. Das meinte er an dem Blick erkannt zu haben, mit dem der
Kommissar ihn gemustert hatte. Aber Beweise oder sonstige Hinweise schien es
nicht zu geben. Sonst hätte man ihn wohl noch einmal verhört oder würde ihn
beschatten. Bei dem Gedanken verspürte er plötzlich ein Brennen in der
Magengegend. Er sprang auf und lief hinüber zum Fenster. Vorsichtig schob er
mit den Fingern zwei Lamellen der Jalousie auseinander und blickte hinaus.
Draußen schien alles wie immer. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Das
Auto seines Nachbarn stand am Straßenrand, Frau Jessen von gegenüber harkte
Laub in ihrem Vorgarten zusammen. Er zog an seiner Zigarette und inhalierte den
Rauch tief bis in die Lungenspitzen. Szenen aus irgendeinem Fernsehkrimi fielen
ihm ein. Was wenn Frau Jessen ein Spitzel der Polizei war? Wurde er vielleicht
abgehört? Das Telefon klingelte und er zuckte zusammen.
»Ich brauche Sie heute Abend für den Transport. 19.30 Uhr,
wie immer«, hörte er die Stimme seines Chefs sagen.
Er blickte ängstlich durch die Jalousien, ehe er flüsterte:
»Meinen Sie, das ist klug? Ich meine, so kurz nach Heike
Andresens Tod?«
»Wieso, hat die Polizei Ihnen gegenüber etwas geäußert?«
Er verneinte eilig die
Frage. Auf keinen Fall wollte er, dass sein Chef merkte, dass er sich unsicher
war. Unsicher darüber, ob die Polizei vielleicht glaubte, dass er etwas mit dem
Mord zu tun hatte und ihn beschattete. Schnell signalisierte er, dass alles in
bester Ordnung sei.
»Alles klar, Chef, dann bis heute Abend!«
Marlene hatte Zweifel und nagte an ihrer
Unterlippe, während sie auf den Bildschirm blickte. Der Mann neben ihr wartete
geduldig und ohne Eile auf weitere Anweisungen.
»Vielleicht den Haaransatz etwas höher? Oder was meinst du?«
Sie drehte sich zu Tom um. Der hatte den Mann zwar auch
flüchtig gesehen, konnte sich aber absolut nicht an das Gesicht erinnern. Da
war einfach ein Loch in seinen Erinnerungen. Er konnte lediglich den hellen
Trenchcoat beschreiben, allerdings auch nur oberflächlich und zuckte deshalb
mit den Schultern. Sie saßen bereits zwei geschlagene Stunden vor dem Monitor
und starrten auf das langsam entstehende Gesicht eines Mannes Anfang 50. Dirk
Thamsen ärgerte sich, dass er nicht selbst zur Beerdigung gefahren war, aber er
hatte das Gefühl gehabt, dass er hier gebraucht wurde. Vielleicht war es auch
wegen der Kinder? Auf jeden Fall hatte er nur die Kollegen in Hamburg gebeten,
einen Zivilpolizisten auf die Beerdigung zu schicken, und dem war angeblich
nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
Von dem Bild, welches langsam auf dem Bildschirm entstand,
hatte er sich jedenfalls mehr versprochen. Das Gesicht, welches Marlene
Schumann Stück für Stück mit seinem Kollegen zusammenbastelte, sah so
gewöhnlich aus. Das konnte beinahe jeder dritte Mann auf der Straße sein. An
die Presse konnten sie damit auf gar keinen Fall.
Er ging zurück in sein Büro. Auf dem Tisch lag das
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