Nordmord
aufgeschlagene Telefonbuch, ein paar Anrufe hatte er bereits getätigt,
allerdings bislang ohne Erfolg.
Er wählte die letzte Nummer, die unter dem Eintrag Schmidt
verzeichnet war. Eine junge Frau meldete sich.
»Carsten Schmidt? Das ist mein Bruder. Der befindet sich
allerdings zurzeit im Ausland.«
Er fragte die Frau, ob ihr etwas über den
Krankenhausaufenthalt ihres Bruders Anfang dieses Jahres bekannt war.
»Aber ja, er hat eine neue
Niere bekommen. Das war aber nicht hier, sondern in Hamburg, soweit ich weiß.«
Er bedankte sich für die Auskunft.
»Wo kann ich Ihren Bruder denn erreichen?«
Das sei schwierig, antwortete die Frau. Er mache gerade eine
Rucksacktour durch Asien. Er könne versuchen, ihn per Mail zu kontaktieren.
Allerdings dauere es meist Tage, bis er antworte, je nachdem, wo er sich gerade
aufhalte und ob er dort Internetzugang habe. Er ließ sich vorsichtshalber die
Mailadresse geben und legte auf.
Es war wirklich wie verhext. Jede kleine Spur, die sich
auftat, endete irgendwo an einer anscheinend unüberbrückbaren Barriere. Sonst
war es eigentlich gerade das, was ihn an seinem Beruf reizte. Nach
ungewöhnlichen Lösungen und Wegen zu suchen, machte für ihn einen Kommissar
erst aus. Eins und eins zusammenzählen konnte ja jeder, dafür brauchte man
keine spezielle Ausbildung oder einen guten Spürsinn. Aber im Moment fühlte er
sich so müde und ausgebrannt. Er sah einfach kein Licht am Ende des Tunnels. Er
lehnte sich zurück und griff nach dem Tagebuch. Er ließ sich gern in die Welt
der Ermordeten entführen. Sie war ihm inzwischen so vertraut. Es war angenehm,
sich mit jemanden so eng verbunden zu fühlen.
02.05.1996
Mutti geht es zum Glück wieder besser. Hatte ein paar Tage
frei, weil ich mehrere Dienste von einem Kollegen übernommen hatte, und konnte
bei ihr sein. Bin mit ihr ein wenig herumgefahren. Durch den alten Elbtunnel,
über die Köhlbrandbrücke, durch die Speicherstadt. Es hat ihr wahnsinnig viel
Spaß gemacht, aber ich hatte auch das Gefühl, dass sie ein klein wenig Abschied
genommen hat. Abschied von der Stadt, Abschied vom Leben. Anders als ich, hat
sie akzeptiert, dass sie wohl bald sterben muss. Sie hat versucht, mit mir
darüber zu sprechen, aber ich kann das nicht. Ich will nicht, dass sie geht.
Wie soll ich ohne sie leben? Kann denn niemand diese Krankheit stoppen? Wozu
bin ich denn überhaupt Ärztin geworden? Ich helfe anderen, kann aber meiner
eigenen Mutter nicht helfen? Ich muss härter arbeiten, noch fleißiger die
Krankheit studieren. Ich muss eine Möglichkeit finden, Mutti zu helfen!
Nach dreieinhalb Stunden war Marlene
einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis der Phantombildzeichnung und auch Tom
glaubte, das flüchtig wahrgenommene Gesicht des Mannes auf dem Friedhof
wiederzuerkennen. Sein Kopf schmerzte und seine Augen brannten. Er brauchte
dringend frische Luft.
Sie verabschiedeten sich von Kommissar Thamsen und verließen
die Polizeidienststelle. Tom schlug vor, einen Spaziergang am Meer zu machen.
»Einmal richtig durchpusten lassen?«
Sie nickte. Statt wie erwartet nach Dagebüll, fuhr er jedoch
in Richtung dänische Grenze. Er hatte vor einiger Zeit im ›Nordfriesland
Tageblatt‹ von der Steilküste in Emmerlev gelesen.
Sie parkten am Ende einer kleinen Straße, von welcher ein
schmaler Weg weiter zum vorgelagerten Strand führte. Der Wind wehte kräftig,
auf den Wellen tanzten helle Schaumkronen. Marlene hatte sich bei ihm
eingehakt, gemeinsam kämpften sie gegen die steife Brise an.
»Meinst du, die Polizei kann etwas mit dem Bild anfangen?«
Sie war mit ihren Gedanken
immer noch bei der Phantombildzeichnung. Hatte der Mann tatsächlich derart
ausgesehen? Hatte sie nicht doch ein wichtiges Detail vergessen? Aber selbst
wenn sie den Mann auch noch so genau mithilfe des Computerprogramms dargestellt
hatte, was sollte es schon viel nutzen? Wahrscheinlich kam er gar nicht aus der
Gegend. Und es war ja auch nicht sicher, dass er überhaupt etwas mit dem Mord
zu tun hatte.
Sie bückte sich und hob einen Stein auf. Mit etwas Fantasie
war darin ein Herz zu erkennen. Sie lächelte und reichte es Tom.
»Ich liebe dich.«
06.05.1996
Also, etwas ist komisch im Krankenhaus. Es hat auf jeden
Fall etwas mit Voronin zu tun. Heute wollte ich ihm die Krankenblätter zum
Abzeichnen bringen. Ich habe nur kurz angeklopft und das ›Herein‹ nicht
wirklich abgewartet. Voronin war
Weitere Kostenlose Bücher