Nordmord
›Nordfriesland Tageblatt‹ prangte
das Bild des unbekannten Mannes vorne auf der Titelseite. Darunter die Frage:
›Ist dies der Mörder von Heike A.?‹
Seit den frühen Morgenstunden stand das Telefon der
Polizeidienststelle nicht mehr still. Thamsen und die anderen Mitarbeiter
hatten alle Hände voll zu tun, die vielen Anrufe entgegenzunehmen. Zum Glück
hatten sie Verstärkung aus Husum und Flensburg bekommen.
Die meisten Hinweise erwiesen sich als nutzlos. Einige
Angaben waren sogar schlichtweg gelogen. So behauptete ein Anrufer, Heike noch
vor zwei Tagen in Leck gesehen zu haben.
Bis zum Mittag waren an die 500 Anrufe eingegangen. Das
Interesse und der Wille in der Bevölkerung an der Aufklärung des Mordfalles
waren enorm hoch, aber vielleicht war auch die hohe Belohnung ein Grund dafür.
Bisher war jedoch kein wirklich nützlicher Hinweis dabei gewesen, allerdings
befanden sich einige Kollegen noch im Einsatz.
Er versicherte gerade einer älteren Dame, dass
der Mann auf dem Fahndungsfoto unter Garantie nicht der Arbeitsminister Norbert
Blüm sei, als ein Zettel auf seinen Schreibtisch geschoben wurde. Man bat um
einen Rückruf in Kiel.
Bei der Liste handele es sich um eine Warteliste für
potenzielle Organempfänger. Die anderen Dateien enthielten krankenhausinterne
Daten und Krankenblätter verschiedener Patienten. Man sei allerdings nach wie
vor dabei, die zum Teil recht unleserlichen Randnotizen zu entziffern.
Dirk Thamsen wählte die Nummer des Staatsanwaltes.
»Herr Niemeyer, wir benötigen einen richterlichen Beschluss.«
Malte blickte sich mehrere Male um, bevor er in
den Lastenaufzug stieg und den Knopf für das fünfte Obergeschoss drückte.
Er trug eine dunkle Wollmütze, den Kragen seiner Jacke hatte
er bis zum Kinn hochgeschlagen.
Als die Aufzugstüren sich wieder öffneten, wartete er einen
Augenblick, ehe er auf den Gang trat. Es war kurz nach Mittag, die Schwestern
machten Pause.
Er klopfte kurz an die Tür und wartete, bis ein leises
»Herein« durch die schwere Brandschutztür zu ihm drang. Noch einmal holte er
tief Luft, dann drückte er die Türklinke herunter.
Professor Voronin war überrascht, ihn zu sehen.
»Was wollen Sie?«
»Was ich hier will?«
Malte trat ganz nah an den Schreibtisch, hinter dem der
Professor saß, und blitze ihn wütend an. Was dachte sich dieser ›Gott in Weiß‹
eigentlich? Dass er für ihn seinen Kopf hinhielt? Da hatte sich der Alte aber
getäuscht.
»300.000.«
Er sagte das in einem Ton, der andeutete, dass er die Summe
für ein wahres Schnäppchen hielt. Voronin grinste verlegen.
»Was gibt es da zu lachen?«
Er beugte sich weit über den Schreibtisch.
»Schließlich hält die Polizei mich für den Mörder. Wenn ich
schon wegen Ihnen abtauchen muss, dann kostet das halt.«
Professor Voronin lehnte sich in seinem ledernen Chefsessel
weit zurück. Sein Mund verzog sich zu einer hämischen Grimasse.
»Lesen Sie keine Zeitung? Ich glaube kaum, dass die Polizei
Sie verdächtigt.«
Malte verstand nicht. Fragend blickte er auf sein
selbstzufrieden wirkendes Gegenüber. Der Professor holte die Tageszeitung aus
dem Mülleimer und hielt die Titelseite hoch.
»Oder sind Sie ein Verwandlungskünstler?«
Wieder und wieder hatten sie die Dateien nach
Lisa Martens abgesucht. Wenn die Personen Teil einer Spenderliste waren, musste
auch ihr Name darauf stehen. Immerhin wartete sie schon länger auf ein
Spenderorgan, auf jeden Fall schon zu der Zeit, als Heike noch lebte.
Doch die Suche blieb ebenso erfolglos wie der Versuch, im
Internet hilfreiche Links zur Entschlüsselung der anderen Dateien zu finden.
Marlene saß auf der Eckbank in der Küche und trank einen
Kaffee. Neben ihr lag die Zeitung.
»Meinst du, jemand kennt ihn?«
Tom zuckte mit den Schultern. Er glaubte nicht wirklich
daran. Der Mann auf der Zeichnung sah zu gewöhnlich aus. Selbst der Hinweis auf
den hellen Trenchcoat war wahrscheinlich ziemlich wertlos. Wie viele weiße oder
beige Mäntel mochte es in Nordfriesland geben? Vermutlich hunderte. Und
bestimmt gab es auch tausende von roten Kleinwagen. Wenn der Täter nicht durch
Zufall in eine Werkstatt gefahren war oder ein ganz Aufmerksamer den
Lackschaden bemerkt hatte, war die Wahrscheinlichkeit, über diese Hinweise den
Täter zu finden, gleich null. Nach den Dateien aus der Mail zu schließen, war
der Täter sowieso eher im näheren Umkreis von Heike zu suchen.
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