Nordmord
Zimmer.
»Professor Voronin, Ihnen scheint der Ernst der
Lage nicht bewusst zu sein.«
Dirk Thamsen hatte sich von seinem Stuhl erhoben und lief
ungeduldig im Raum auf und ab. Seit über einer halben Stunde stritt der
Professor alles vehement ab. Hoffentlich fanden seine Kollegen bald etwas, denn
ohne den kleinsten Beweis konnte er Voronin nicht einfach festhalten.
»Noch einmal, was ist mit dieser Spenderliste?«
Wieder antwortete der Verhörte, er habe keine Ahnung, hätte
diese Liste noch nie gesehen.
»Und die anderen Daten aus dem Krankenhaus? Was hat es damit
auf sich?«
»Krankenblätter, ganz normale Krankenblätter.«
Heikes ehemaliger Chef wiegte sich anscheinend in Sicherheit.
Warum auch nicht? Laut Zeitungsberichten suchte man nach einem Mann, dessen
Phantombild ihm nicht im Geringsten ähnelte, und einen roten Kleinwagen besaß
er ebenfalls nicht. Außerdem machte es auf ihn nicht gerade den Eindruck, als
wüsste die Polizei etwas mit der Spenderliste und den Aufzeichnungen der jungen
Ärztin anzufangen. Im Gegenteil. Der Kommissar erweckte in ihm eher den
Verdacht, dass man hier wahrscheinlich gar nichts wusste und einfach munter auf
gut Glück ein wenig herumfragte. Doch da hatte er sich geirrt.
»Na schön. Lassen wir mal die Liste und die Krankenblätter.
Was sind das für zwei Herren, die Sie regelmäßig aufsuchen?«
Voronin war erstaunt. Woher wusste der Kommissar von Nikolaj
und Michail Kamenski? Hatte Heike Andresen etwa doch vor ihrem Tod mit der
Polizei gesprochen? Oder hatten die Schwestern geplaudert? Er begann, zu
schwitzen. Sein Herzschlag verdoppelte sich beinahe.
»Das sind Freunde von mir.«
»Und diese Freunde bedrohen Sie?«
Thamsen ging aufs Ganze.
Er wusste zwar nicht genau, was der Professor mit den Männern zu schaffen hatte,
aber den Aufzeichnungen aus Heikes Tagebuch und dem Streit zufolge waren sie
mit Sicherheit keine Freunde von Voronin. Der wurde plötzlich bleich und
stotterte:
»Ohne meinen Anwalt sage ich jetzt gar nichts mehr.«
Sie waren in Richtung Meer gefahren. Der Wind
wehte stürmisch und blies die Wolken am Himmel mit einer irrsinnigen
Geschwindigkeit vor sich her. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Im Radio lief
eine Unwetterwarnung, man erwartete einen Wasserstand von eineinhalb Metern
über dem Stand des mittleren Hochwassers.
Nachdem Tom den grässlichen Verdacht ausgesprochen hatte,
waren ihr zunächst dutzende Argumente eingefallen, die diese Vermutung
widerlegten.
Nicht in einer Kleinstadt wie Niebüll. Das würde doch zu
schnell auffallen. Wo sollten denn die illegalen Spender herkommen? War man in
der Klinik überhaupt auf Transplantationen eingerichtet? Heike hatte einen sehr
ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, da hätte sie niemals mitgemacht. Und so weiter
und so fort.
Tom hatte nur zu bedenken gegeben, dass Derartiges vielleicht
in einer kleinen Stadt wie Niebüll weniger auffällig war als woanders. Wenn man
es geschickt organisierte, würde ein solcher Vorgang vermutlich gar nicht
bemerkt werden. Man musste nur die richtigen Leute kennen.
Marlene hatte versucht, noch ein paar entkräftigende
Argumente anzuführen, aber der scheußliche Verdacht hing wie ein
undurchdringlicher Nebel in der Luft und ließ sich nicht vertreiben.
Im Fahretofter Koog, an der Außenseite des alten Deiches,
ergab eine Herde Schafe ein kurioses Bild. Die Tiere hatten sich alle in eine
Richtung aufgestellt, streckten dem Wind ihre Hinterteile entgegen. Sie mussten
schmunzeln, als sie die Schafsherde hinter dem Schutzwall entdeckten.
Im Hauke-Haien-Koog, oberhalb des Speicherbeckens, hielten
sie an und stiegen aus. Es war kalt und ungemütlich, doch sie brauchten frische
Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Wenn sie tatsächlich ihren Verdacht
äußerten, war das eine ungeheure Anschuldigung. Gegenüber dem Krankenhaus, dem
Professor, den Patienten und wahrscheinlich auch gegenüber Heike. Egal, ob sie
daran beteiligt gewesen war oder nicht, sie hatte zumindest davon gewusst. Das
bewiesen allein die Dateien.
Sollten sie sich also dafür entscheiden, ihren Verdacht
Kommissar Thamsen mitzuteilen, musste das gut überlegt sein.
Tom griff nach Marlenes Hand, gemeinsam kämpften sie sich den
Außendeich entlang.
»Wieso hat Heike nicht mit mir darüber gesprochen? Wir haben
uns doch immer alles erzählt.«
Er gab zu bedenken, dass sie in letzter Zeit wenig mit der
Freundin unternommen hatte. Dem
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