Nordmord
musste sie allerdings zustimmen. Sie hatte sie
in den letzten Wochen und Monaten schon sehr vernachlässigt. Aber das lag doch
nur daran, dass Marlene so viel Zeit wie möglich mit Tom verbringen wollte. Und
dann der Umzug nach Risum und der Job am Institut. Sie hatte gedacht, Heike
hätte Verständnis dafür gehabt. Dass ihre Freundin sich vielleicht einsam und
allein gelassen gefühlt hatte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Aber Tom
hatte recht. Sie war beinahe ausschließlich mit sich selbst beschäftigt
gewesen, als dass ihr überhaupt aufgefallen wäre, dass etwas nicht stimmte,
dass Heike möglicherweise Sorgen hatte, sich bedroht fühlte. Ihr schlechtes
Gewissen trieb ihr die Tränen in die Augen. Tom nahm sie in seine Arme, drückte
sie fest an sich.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt
hatte und die letzte Träne versiegt war. Sie blickte ihn entschlossen an.
»Wir sollten zu Kommissar Thamsen fahren. Heike hilft es
leider nicht mehr, wenn wir unseren Verdacht äußern, aber sicherlich jemand
anderem!«
Dirk Thamsen hatte den Verdächtigen gehen lassen
müssen. Sein Anwalt war gekommen und hatte nach Beweisen, welche die Schuld
seines Mandanten belegen würden, gefragt. Er hatte nichts vorbringen können und
so hatte der Anwalt sich verabschiedet und Voronin mit sich aus dem Zimmer
gezogen.
Auf seinem Schreibtisch lagen ein Stapel Akten und Papiere
aus dem Büro des Professors. Er blätterte sie langsam durch. Wenn er doch nur
wüsste, wonach er genau suchen sollte. Die vielen medizinischen Begriffe und
Werte sagten ihm rein gar nichts. Seine Kollegen hatten bisher auch noch nichts
Auffälliges gefunden. Ein paar unstimmige Daten, die konnten aber falsch
übertragen worden sein. Also, entweder gab es in den Unterlagen wirklich keine
Beweise oder hier war ein Schlaumeier am Werk gewesen. Wie um alles in der Welt
war jedoch Heike Andresen hinter diese Dinge gekommen? Er blickte wieder auf
die Spenderliste und dann auf die Krankenblätter aus dem Mailanhang. Hier
stand, dass eine gewisse Lydia Marquardt eine neue Leber bekommen hatte. Neben
diesem Eintrag waren die Namen Malte und Voronin in Heikes Handschrift
verzeichnet. Er blätterte zurück zu der Warteliste der potenziellen
Organempfänger und suchte nach dem Namen Lydia Marquardt. Es war kein Eintrag
verzeichnet. Wie konnte es sein, dass jemand, der nicht auf der Liste stand,
trotzdem ein neues Organ erhielt? Das ergab sich wohl kaum von heute auf
morgen, da waren doch zunächst andere an der Reihe, oder? Und Lydia Marquardt
war ganz offensichtlich nicht die Einzige. Carsten Schmidts Name befand sich
ebenfalls nicht unter denen, die auf einen passenden Spender warteten. Und
wahrscheinlich waren auch Mona Hansen und Marten Feddersen Organempfänger
gewesen, deren Namen jedoch nirgends verzeichnet waren. Auffällig war
zumindest, dass die Akten der drei Patienten wie vom Erdboden verschluckt
schienen.
Er griff zum Tagebuch und überschlug die
nächsten Seiten flüchtig. Heikes Aufzeichnungen über ihre Treffen mit Malte
waren nun uninteressant. Der Name Voronin oder irgendwelche Patientennamen
waren im Augenblick von viel größerer Bedeutung. Schon nach einigen Seiten
stolperte er über einen Eintrag, der ihm aufschlussreich erschien.
06.08.1996
Habe heute im Archiv wieder eine merkwürdige Entdeckung
gemacht. Ich wollte ein paar Fälle für einen Fachaufsatz heraussuchen, dabei
fiel mir die Akte von Mona Hansen in die Finger. Bereits nach einem Jahr seit
der Diagnose eines akuten Nierenversagens hatte die Patientin eine
Nierentransplantation bekommen und das, obwohl ihre Werte nicht die höchste
Dringlichkeitsstufe erreichten. Langsam finde ich das sehr auffällig, dass
gerade in unserer Klinik sehr viele Patienten bereits nach kurzer Zeit eine
neue Niere bekommen. Ich bin dann hinunter auf die Innere, habe mich ganz
unverbindlich mal bei den Schwestern so ein wenig umgehört. Auch hier haben
einige Patienten schon öfters Glück gehabt, wie sie es nannten, und relativ
schnell ein neues Organ bekommen. Leber, Lunge, Pankreas, alles schien vertreten.
Also, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Ich werde mal die
Wartelisten von ›Eurotransplant‹ anfordern und mir das genauer ansehen.
09.08.1996
In den Listen habe ich keinen einzigen der Namen gefunden.
Dafür habe ich morgen Wochenenddienst. Will mich hauptsächlich ein wenig im
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