Nordseefluch: Kriminalroman
Fortschritte?«, fragte ich ihn.
»Sagen wir lieber, wir kommen voran«, antwortete er. »Ich wollte Sie schon anrufen, Herr Färber. Für unsere Arbeit wäre es nützlich, wenn wir uns mit Ihnen einmal besprechen könnten.«
»Manfred Kuhnert?«, fragte ich.
Der Kommissar nickte.
»Wann?«, fragte ich.
Pietsch überlegte.
»Morgen fahre ich zur Insel. Das erfordert der Fall. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme. Dennoch hätte ich gern Ihren Rat gehört«, sagte er.
Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war einige Minuten nach 17 Uhr.
»Soll ich gleich mitkommen?«, fragte ich und wies mit dem Kopf in Richtung Ludgeri-Kirche, hinter der die Kripo im ehemaligen historischen Weinhaus residierte.
»Nein«, antwortete er, »mir wäre es lieber, wenn Sie mich heute Abend besuchen würden.«
Der Kommissar machte mich neugierig. Er hatte mir auf Juist so ganz nebenbei erzählt, dass er sich von Düsseldorf hierher hatte versetzen lassen, weil seine Frau in Ostfriesland von einem entfernten Onkel eine Kate geerbt hatte.
Er reichte mir sein Kärtchen.
»Gut, ich bin einverstanden«, antwortete ich und steckte es ein.
»Bis dann«, sagte er und schritt davon.
Die Kate lag versteckt hinter Ulmen, die ihre lebenswichtige Nässe aus dem Graben sogen, der an dem Grundstück vorbeilief. Das alte Gebäude, ein Ostfriesenhaus mit scheunenartigem Anbau unter einem gemeinsamen Dach, das sich fast bis zum Boden hinzog, stand auf einer großen Wiese. Auf der Einfahrt parkte bereits ein Ford Focus.
Das wird Kriminalassistent Heiko Ekinger sein, dachte ich und stieg aus.
Ich schritt an einem hässlichen Container mit Bauschutt vorbei, und sah, dass frischer weißer Mörtel in den Fugen des Mauerwerks klebte.
Pietsch hatte auf eine Klingel verzichtet. Ich griff nach dem antiken Klopfer, der die Gestalt eines Fischmauls hatte, und bediente ihn.
Der Kommissar öffnete die Tür. Er trug einen blauen Troyer und Jeans.
»Das freut mich, Herr Färber, dass Sie gekommen sind«, sagte er und führte mich über Steinfliesen an getäfelten Wänden vorbei. Wir betraten das Wohnzimmer. Grobe Balken teilten es in zwei Räume auf.
Kriminalassistent Ekinger saß in einem Sessel, den er voll ausfüllte. Er quälte sich mühsam hoch und begrüßte mich.
»Wir tagen hier«, sagte der Kommissar und zeigte auf den Tisch und die freien Sessel. »Was möchten Sie trinken?«
»Bier«, antwortete ich und blickte auf die Stangengläser. Ich nahm Platz.
»Alt?«, fragte er.
Ich nickte.
Der Kommissar holte Bier, schenkte ein und setzte sich zu uns. Wir prosteten uns zu. Nachdem wir die Gläser abgestellt hatten, langte Pietsch nach einem Ordner, den er von einem kleinen Beistelltisch nahm.
»Herr Färber, ich werde Sie mit den Ergebnissen unserer Recherchen vertraut machen, denn schließlich verdanken wir Ihnen den schnellen Erfolg. Doch vorher lese ich Ihnen aus dem Gutachten, das der Sachverständige Professor Dr. Loraner im Auftrag der Staatsanwaltschaft erstellt hat, die wichtigsten Passagen vor. Hinzufügen muss ich, dass sich Manfred Kuhnert zurzeit in einer geschlossenen Psychiatrie befindet. Ihm wird, wie Ihnen bekannt ist, der Mord an dem Mädchen zur Last gelegt, doch er leidet unter den Folgen eines Gedächtnisausfalls.«
Ich trank hastig einen Schluck des süffigen Altbiers, langte nach einer Zigarette aus der Schachtel, die der Kommissar zur Vervollkommnung seiner Gastfreundschaft ausgelegt hatte, und konzentrierte mich auf seinen Vortrag.
»Der Patient Manfred Kuhnert ist von äußerlich respektabler Gesundheit, die er als Waffe, gesteuert von Unterbewusstseinsreaktionen, einsetzt, um von seinem zerrütteten seelischen Zustand abzulenken.
Die Untersuchungsergebnisse führen zu dem Schluss, dass Manfred Kuhnert unter Lebensangst leidet, sich nach Liebe sehnt, da er – seine Heimaufenthalte können als Komponenten mit eingebracht werden – ungewollt zur Welt gekommen sein wird. Manfred Kuhnert wird bereits im Mutterleib gefühlt haben, dass er abgelehnt wurde.
Diesen Eintrittsschock, vermutlich lag eine missglückte Schwangerschaftsunterbrechung vor, hat seine seelische Entwicklung stark geprägt. Dadurch bedingt, geriet Manfred Kuhnerts Unterbewusstsein in einen Teufelskreis, denn einerseits suchte er ständig nach Geborgenheit, die er in berufsmäßig geführten Erziehungsheimen nicht finden konnte, andererseits musste er die fürsorglich schützenden weiblichen Elemente des Lebens ablehnen, da sie ihn in die missliche
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