Nordseefluch: Kriminalroman
Kommissar«, bat ich, denn ich musste mich erinnern. Dann sagte ich: »Vielleicht war es kein Zufall, dass der Kutscher, falls der Zeitpunkt seines Todes zutrifft, unverständlicherweise sein Pferd antreibend, die Kutsche wie in einem Draculafilm an mir über die leere, in Neonlicht getauchte Marktstraße vorbeigelenkt hat.«
Ich glaubte zu wissen, dass das Geschehen gegen zwanzig Uhr fünfzig vor mir abgerollt war, als ich auf der Suche nach einer Möglichkeit war, den Fund der Mädchenleiche zu melden. Wenn das stimmte, dann hatte sich der Kutscher mit seiner Droschke auf der Fahrt ins Verderben befunden.
Die zentrale Frage blieb.
Wie schaffte es der Mörder, für uns Manfred Kuhnert, die Leiche des Kindes zum See-Shop zu bringen? Alle meine Gedanken kreisten jetzt um die Kutsche.
Ich sah, wie der Kommissar die Gläser erneut füllte.
»Da ist Folgendes«, entschloss ich mich zu einer Stellungnahme. »Mein Vetter besitzt Reitpferde. Er hat das, was man Pferdeverstand nennt. Als wir in der Nacht den Tatort aufsuchten und Sie und auch die Neugierigen sich nur für das zweite Mordopfer interessierten, führte mich mein Vetter an die Kutsche. Er bedauerte das Tier, tätschelte es und sagte: ›Der Kutscher hat sein Gefährt ordentlich verlassen.‹ Oder ähnlich und ich erinnere mich, dass er die Leine prüfte, die fest an den Bock gebunden war. Die Bremsbacken waren angezogen. Der Kutscher hat demzufolge dort bewusst angehalten und sich dann dem Mörder beabsichtigt oder unbeabsichtigt genähert.«
Kommissar Pietsch machte sich Notizen. Dagegen hatte ich nichts. Ich war Zeuge und alles, was ich sagte, entsprach der Wirklichkeit.
Heiko Ekinger hatte sich zurückgelehnt. Er hielt sein Glas in der Hand, ohne es an seine Lippen zu führen.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Kommissar Pietsch strich mit seinem Zeigefinger und Daumen entlang seines breiten Schnurrbarts, als wolle er die Lippen vom Kraushaar frei halten.
»Die Kutsche!«, sagte er, als fiele ihr eine zentrale Bedeutung zu.
Er trank sein Alt aus und griff zur bereitgestellten vollen Flasche. Während das Bier in sein Glas gluckerte, fragte ich: »Wäre es denkbar, dass der Kutscher Manfred Kuhnert befördert hat, der die Leiche vielleicht wie ein schutzbedürftiges Schwesterchen, so als lebe es noch, auf den Droschkenplatz platziert hat oder unter einem weiten Mantel versteckt hielt, und nachher, als die Suche begann, als Mitwisser von Manfred Kuhnert beseitigt wurde?«
»Es war noch nicht dunkel und Manfred trug keinen Mantel«, antwortete Pietsch.
Heiko Ekinger neigte sich vor: »Wir haben während der Suche nach Marion auf Juist über Lautsprecher die Kleidung des Kindes als Erkennungsmerkmal ausrufen lassen. Aber Sie und Ihre Verwandten fanden Marion nackt vor den Leergutkästen des See-Shops. Zentimeter für Zentimeter haben wir das Gelände des mutmaßlichen Tatorts nicht nur abgesucht, sondern zusätzlich von Hilfskräften mit Sonden, Spaten und Spitzhacken umwühlen lassen. Wir fanden keine Spur! Weder ein Söckchen noch eine Sandale ist zum Vorschein gekommen.«
Ekingers Gesicht drückte tiefe Enttäuschung aus.
»Und Manfred Kuhnert?«, fragte ich.
Pietsch lachte.
»Herr Färber, Sie haben seine Bude gesehen. Wir haben die Fußbodendielen herausreißen lassen. Selbst die Hohlstellen der Putzwände haben von uns bestellte Handwerker mit Hammer und Meißel aufgeschlagen bei der Suche nach der Kleidung und Wäsche des toten Mädchens.«
Der Kommissar trank sein Bier. Er war in Fahrt gekommen und ich bemerkte die roten Flecken der Aufregung in seinem Gesicht.
»Herr Färber, wenn jemand in einem Garten etwas versteckt, dann hat man eine Chance. Aber in den Dünen der Insel zerrinnt einem der Optimismus buchstäblich im Sande«, sagte er grollend.
Diese Einzelheiten ihrer Bemühungen, den Mord an Marion und den gewaltsamen Tod des Kutschers aufzuklären, hatten sie mir bisher vorenthalten.
Ich war sehr beeindruckt und fragte: »Sie glauben, dass Manfred Kuhnert, obwohl er völlig betrunken war, für die Kleidung des Opfers ein Versteck gewählt haben kann, das Ihnen noch völlig unbekannt ist?«
Heiko Ekinger goss Bier in sein Glas. Er schaute mich missmutig an.
»Herr Färber, unsere Fahrten nach Juist waren keine Sightseeing-Touren. Wir haben den stinkenden Inhalt des Containers vor Manfreds Bude untersucht. Ein Gebläse hat den Abfall gesiebt. Auch den Komposthaufen ließen wir abtragen, als könnten zwischen den gärenden
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