Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
lange war die Sache nun auch wieder nicht her. Es kam ihr nur so vor. Der Unfall und die lange Zeit danach, in der Fredrik krankgeschrieben gewesen war, lagen wie ein ganzer Felsbrocken Ewigkeit zwischen dem Jetzt und all dem, was davor gewesen war.
Wenn Ninni sich daran zu erinnern versuchte, wie es vor dem Unfall gewesen war, hatte sie das Gefühl, in dichtem Nebel aufs Meer zu blicken. Die Vergangenheit schien ihre Bedeutung verloren zu haben, irgendwo in weiter Ferne entschwunden und kaum noch greifbar. Und trotzdem hatte sie diese Bemerkung gemacht. Ausgerechnet heute.
Nach dem Abendessen brachte sie die Küche in Ordnung. Wenn Fredrik gekocht hatte, gab es nie viel abzuwaschen. Während der Ausbildung in der Kochschule, die er jedoch nach drei Monaten abgebrochen hatte, war ihm beigebracht worden, dass man in den kurzen Wartezeiten, die sich beim Kochen immer wieder ergaben, abspülen und aufräumen musste. Wenn bei ihm das Essen auf dem Tisch stand, war die Küche daher oft genauso blitzblank wie vor dem Kochen. Bei ihr war es genau umgekehrt. Sie hinterließ ein Schlachtfeld voller Töpfe, verklebter Schneebesen und schmutziger Schalen.
Sie freute sich wirklich für Fredrik. Aber wenn sie ganz ehrlich war, fühlte sie sich hin und her gerissen. Zurück im Außendienst. Das war eine riskante Arbeit, da brauchte man sich nichts vorzumachen.
Fredrik war von Ärzten, Psychiatern und Psychologen auf Herz und Nieren durchgecheckt worden. Alle hatten sich viel Zeit gelassen. Keiner von ihnen sagte, gut, wir probieren es aus, und dann werden wir ja sehen, wie er sich macht. Das hatte sie begriffen. Sie machte sich keine Sorgen, dass er noch nicht bereit sein könnte. Sie beschäftigte eine andere Sorge: dass er es übertreiben würde. Dass ihm noch einmal so etwas zustoßen könnte, weil er zu wenig auf sich achtete. Dieser Charakterzug war eine ebenso große Gefahr für ihn wie die Risiken, die seine Arbeit mit sich brachte.
Sicher, irgendetwas hatte er wahrscheinlich aus dem Ereignis gelernt. Ninni hatte zahllose Male mit ihm darüber gesprochen. Aber seine Erinnerungen an den Unfall waren unvollständig und die Schlussfolgerungen, die er daraus zog, nicht ganz eindeutig. Zumindest nicht in ihren Augen. Auch mit Sara hatte sie einige Male darüber geredet, aber die Bilder passten nicht richtig zusammen. In gewisser Weise hatte Sara angedeutet, Fredrik habe mehr getan, als eigentlich nötig gewesen wäre. Im Eifer des Gefechts war das natürlich schwer zu entscheiden gewesen, aber wenn Ninni Sara richtig verstanden hatte, hätte Fredrik den Mann, den sie auf Östergarnsholme verhaftet hatten, auch laufen lassen können. Er hätte auch zulassen können, dass sich der Mann von der Klippe stürzte, wenn er das unbedingt wollte. Der Versuch, ihn aufzuhalten, war viel zu riskant gewesen. Das hätte niemand von Fredrik verlangt. Niemand hätte ihn zur Rechenschaft gezogen.
Ninni trocknete sich die Hände an dem Küchenhandtuch mit dem Monogramm ihrer Großmutter ab. Sie sah aus dem Fenster. Der abendliche Augusthimmel war noch immer hell. Und trotzdem war sie urplötzlich von Finsternis umgeben. Diese verdammte Unruhe.
Sie ging rasch ein paar Schritte durch die Küche, als könnte sie so ihrer inneren Dunkelheit entkommen. Und es funktionierte tatsächlich. Wie sonst auch.
13
Als Fredrik am Dienstagmorgen aus dem Küchenfenster sah, schwebten kleine Nebelfetzen über den Wiesen und Äckern; wie sie da im blauen Dämmerlicht dahinzogen, wirkten sie fast wie Elfen. Die hellen Charolaisrinder standen reglos in den Nebelschwaden. Die Jungtiere waren noch bei ihren Müttern, erst in etwa einem Monat würde ihr Fleisch für sechshundert Kronen das Kilo verkauft werden.
Fredrik duschte, zog sich an, holte die Zeitung und deckte den Frühstückstisch. Ninni kam wie üblich genau in dem Moment, als die letzten Kaffeetropfen durch den Filter rannen.
»Ist was passiert?« Sie zeigte auf die Zeitung.
»Nichts Wichtiges«, sagte er, »ich war heute ziemlich schnell durch.«
Ninni setzte sich neben ihn auf die Küchenbank. Wenn sie noch näher an ihn herangerückt wäre, hätte sie auf seinem Schoß gesessen. Sie sah ihn an, grinste breit und gab ihm einen Kuss. Ein braves Morgenküsschen.
Er fragte sich immer wieder, wie sie diese zwei Jahre ausgehalten hatte. Das letzte war an und für sich gar nicht so schlimm gewesen. Vielleicht sogar besser als ein normales Jahr, weil er so viel zu Hause gewesen war. Aber das
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