Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
möglicherweise eine Klassenkameradin von ihr zu Hause geblieben, weil sie krank ist?«, fragte Fredrik.
Malin warf Anita einen Blick zu, doch die schüttelte den Kopf.
»Nein, alle sind da.«
Die ersten Polizisten waren eingetroffen, bevor Malin Matilda nach dem Auto hatte fragen können, das sie gesehen hatte. Sie kamen zu viert in zwei Polizeiwagen. Malin hatte den Eindruck, dass alles furchtbar lange dauerte. Gemächlich schlenderten sie in die Schule, als hätten sie alle Zeit der Welt. Als stünde nichts auf dem Spiel. Hätten sie nicht rennen müssen? Hätten sie nicht längst suchen, im großen Stil fahnden und die Insel generalstabsmäßig durchkämmen müssen?
Wenige Minuten später trafen Fredrik Broman und Sara Oskarsson mit einem dritten Polizisten ein. Als sie erfuhren, dass Matilda vor dem Schulgebäude ein Auto gesehen hatte, wollten sie mit ihr sprechen – genau wie Malin, die aber nicht dazu gekommen war.
Malin war bei dem Gespräch dabei. Das einzig Sinnvolle, was sie aus Matilda herausbekamen, war die Information, dass es sich um ein weißes Auto handelte. Wie sie es auch drehten und wendeten, es blieb dabei. Ein weißes Auto, mehr nicht. Matilda wirkte schüchtern und beantwortete die Fragen im Flüsterton. Malin wurde das Gefühl nicht los, dass das Mädchen mehr wusste, als sie sagte. Dass sie aus irgendeinem Grund etwas verschwieg. Weil sie schüchtern, verängstigt oder leicht verblödet war oder einfach nicht begriff, worum es ging.
Mehrmals musste Malin sich zusammenreißen, um das Kind nicht zu schütteln und ihm ins Gesicht zu schreien, es solle endlich alles erzählen, was es wisse.
Nach dem Gespräch mit Matilda gingen sie hinaus auf den Schulhof, um die Stelle in Augenschein zu nehmen, wo Ellen zuletzt gesehen worden war. Hier standen sie nun auf dem Bürgersteig: Malin, Henrik, Anita, die vier uniformierten Polizisten und außerdem Fredrik Broman, Sara Oskarsson und der dritte Polizist in Zivil. Es beruhigte Malin zumindest ein wenig, dass Fredrik und Sara da waren. Trotz allem.
»Gibt es keinen anderen Ort?«, fragte Fredrik. »Vielleicht ein Geschäft, wo Sie manchmal einkaufen?«
»Höchstens Ica«, antwortete Henrik, »aber da machen wir nur selten unsere Besorgungen.«
»Könnte sie nicht auch aus irgendeinem Grund die Fähre genommen haben, weil sie nach Hause wollte?«, schlug Sara Oskarsson vor.
»Theoretisch schon«, sagte Henrik, »aber ich kann es mir kaum vorstellen. Zu Fuß ist es viel zu weit, das weiß sie.«
»Na gut«, sagte Fredrik.
Der uniformierte Polizist namens Knutsson, der unter seiner blauen Mütze keine Haare zu haben schien, drehte sich zu Fredrik um. »Wir fahren zum Fähranleger und machen unterwegs halt bei Ica. Anschließend durchsuchen wir die Straßen in der unmittelbaren Umgebung.«
Fredrik nickte ihm zu, und dann wechselten sie ein paar Worte, ohne dass sie es hören konnte. Endlich passierte etwas, dachte sie. Anita hatte auf dem Farbdrucker der Schule mehrmals das Schulfoto von Ellen ausgedruckt. Knutsson hielt die Bilder in der Hand.
»Es ist zwar noch nicht viel Zeit vergangen, aber ich finde, wir sollten eine Suchmeldung rausschicken«, sagte der zivil gekleidete Polizist mit dem gepflegten Bart.
Knutsson sah ihn an und schob seine Mütze in den Nacken.
»Wegen der Drohung«, fügte der Mann im Anzug hinzu.
Knutsson erwiderte etwas darauf, aber Malin hörte nicht mehr zu. Etwas ganz anderes hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen. In zweihundert Metern Entfernung näherte sich mit müden Schritten eine kleine Gestalt. Sie war noch zu weit weg, als dass man hundertprozentig sicher hätte sein können, aber Malin blieb fast das Herz stehen. Kurz darauf begann es so heftig zu schlagen, dass sie fürchtete, es könnte sich aus seiner Verankerung lösen. Sie legte sich die Hand auf die Brust und machte einen großen Schritt auf das Kind zu, das die Straße entlangtrottete. Natürlich konnte das … natürlich war das …
Mit zusammengekniffenen Augen stand sie ganz ruhig da und wartete. Das Kind kam immer näher. Ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren. Es trug eine Jeans und ein rot kariertes Top.
Malin konnte es sich nicht verkneifen, laut aufzuschluchzen.
Henrik, die Polizisten und Anita starrten sie erschrocken an. Aber sie beachtete die anderen überhaupt nicht. Sie war sich jetzt ganz sicher, und dann rannte sie auf Ellen zu. Tränen liefen ihr übers Gesicht, ihr Brustkorb brannte und schmerzte auf seltsame Weise, und als sie
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