Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
»Nein, wir haben sie nicht abgeholt.« Sie verdrehte die Augen. »Warum fragen Sie?«
Erst als sie Henrik ansah und seinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, wurde ihr klar, was Anita mit der Frage gemeint hatte.
»Was ist los?«, wisperte Henrik.
»Wie meinen Sie das? Ist Ellen denn nicht in der Schule?«, fragte Malin.
»Sie ist nach der Mittagspause nicht zum Unterricht erschienen.«
Anita Frisks Stimme klang etwas brüchig, aber das konnte auch an der Verbindung liegen.
»Wie, nicht erschienen? Ist sie weg?«
Malin klammerte sich an Henriks Blick. Er saß stocksteif neben ihr.
»Wir haben sie natürlich auf dem Schulhof gesucht, aber da war sie nicht und auch nirgendwo im Gebäude. Da dachten wir …«
»Mein Gott, wie spät ist es denn …« Malin warf einen Blick auf die Armatur: halb eins. »Wann war die Mittagspause zu Ende?«
»Um zehn nach zwölf«, sagte Anita.
»Zehn nach zwölf? Das ist ja schon zwanzig Minuten her. Zwanzig Minuten! Warum haben Sie nicht gleich angerufen?« Ihre Stimme klang schrill. Malin war kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Warum haben Sie nicht Bescheid gesagt, verdammt noch mal?«
»Wir haben überall gesucht und die Kinder befragt, die mit ihr in die Pause gegangen waren …«
»Das kann doch nicht wahr sein. Meine Tochter verschwindet, und Sie rufen mich erst nach zwanzig Minuten an. Kapieren Sie denn nicht, wie ernst die Lage ist?«
Malin hatte sich so weit nach vorn gebeugt, dass der Gurt sich straff über ihre Brust spannte. Sie starrte durch die Windschutzscheibe in den blauen Himmel, sah aber nur das Familienfoto vor sich. Und Ellen mit ausgestochenen Augen. Ihr wurde schlecht.
»Was ist los?«, zischte Henrik.
»Malin, ich bespreche gern in Ruhe mit Ihnen, was wir wann hätten machen sollen, aber im Augenblick sollten wir uns wahrscheinlich lieber darauf konzentrieren, Ellen zu finden.«
Eine Welle brennenden Zorns durchströmte Malin und lähmte sie für einen Moment. Sie wollte schreien und um sich treten, konnte sich aber nicht bewegen. Verfluchte Vollidiotin. Verfluchte Anita Frisk. Dann ebbte sie wieder ab.
»Haben Sie die Polizei angerufen?«, fragte Malin.
»Nein, wir wollten zuerst mit Ihnen sprechen, weil wir hofften, sie wäre vielleicht bei Ihnen.«
»Ich rufe die Polizei an. Sie müssen zum Kindergarten hinübergehen und nachsehen, ob Axel da ist. Wir sind bedroht worden. Ich habe nichts davon gesagt, aber wir haben Drohungen erhalten, und diese Geschichte könnte …«
Sie konnte nicht weitersprechen.
»Wir waren schon drüben«, sagte Anita Frisk. »Wir dachten, sie sei in den Kindergarten gegangen, aber das war sie nicht.«
»Ich rufe die Polizei«, wiederholte Malin. »Wir kommen. Im Moment befinden wir uns auf der Fähre, in der falschen Richtung. Aber wir kommen. Rufen Sie mich an, wenn etwas passiert.«
Dann legte sie auf, ohne sich zu verabschieden.
»Was ist los?« Henrik warf ihr einen besorgten Blick zu.
»Ellen ist weg. Sie ist nach der Mittagspause nicht wieder ins Schulhaus gekommen.«
Malin versuchte, die Ziffern 112 in ihr Mobiltelefon einzutippen.
»Ist was passiert? Was soll das heißen, weg?«
»Ich weiß es nicht. Keine Angst, es ist sicher nichts passiert. Sie ist nur verschwunden. Ich rufe jetzt die Polizei.«
Henrik saß stumm neben ihr, während sie auf den grünen Knopf ihres Handys drückte.
»Was haben sie über Axel gesagt?«
»Er ist da. Sie haben auch im Kindergarten nach Ellen gesucht. Wir müssen sofort hin.«
Sie drehte sich um und blickte zur Brücke der Fähre hoch, die sich quer über das Autodeck erstreckte.
»Die sollen umdrehen.«
»Wir sind schon da«, sagte Henrik.
Die Fähre schaukelte, nachdem sie gegen den Kai gestoßen war. Malin fiel das Mobiltelefon aus der Hand und rutschte unter die Pedale. Sie wollte sich bücken, aber der stramme Gurt hielt sie zurück.
»So eine verdammte Scheiße«, schluchzte sie wütend.
Endlich hatte sie sich losgemacht und konnte das Handy hochholen. Die Verbindung war unterbrochen. Sie wählte die Nummer erneut, drückte auf den grünen Knopf und hielt sich das Telefon ans Ohr.
Summend ging der Schlagbaum hoch, und ihre Reihe bekam grünes Licht für die Abfahrt. Malin nahm das Handy in die linke Hand und versuchte, mit der rechten den Zündschlüssel herumzudrehen. Nichts passierte. Das Auto stand einfach nur da.
»Was soll das denn?«, jammerte sie.
Henrik streckte die Hand aus. Er wollte das Telefonat übernehmen. Malin stieß ihn weg
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