Nore Brand 03 - Racheläuten
Wenn einer Spuren verwischen oder auslegen will. Kann man das nicht herausfinden?«
Sie beugte sich wieder über die Papierfetzen. »Ist diese Seite datiert?«
»Genau das muss ich jetzt herausfinden. Lass mir ein bisschen Zeit.«
»Aber es stört dich nicht, wenn ich in meinem Büro lesen möchte, oder?« Sie hielt ihm die Akten unter die Nase.
»Kein Problem, solang du dir die Akten nicht mit lauter Stimme vorlesen musst!«
»Aber ich will meinen Stuhl. Da, nimm den Besucherstuhl, du merkst ja nicht, worauf du sitzt.«
Nino Zoppa tauschte die beiden Stühle aus, ohne das angefangene Puzzle aus den Augen zu lassen.
Es wurde still im Büro.
Sie hatte die Akten zum Fall Meier geholt. Es war unangenehm, die Arbeit eines Kollegen zu überprüfen, aber sie hatte keine Wahl. Es war ein Auftrag. Sie vermutete, dass er in der gleichen Situation sich die Chance nicht entgehen lassen würde. Er war ein unausstehlicher Besserwisser.
Sie rollte den Sessel zum Fenster, schlüpfte aus den Stiefeln und legte ihre Füße auf den alten Radiator. Ab und zu warf sie einen Blick auf Nino Zoppa. Er hatte sich an den Tisch gesetzt und brütete unbeweglich wie ein Yogi über den sorgfältig ausgelegten Papierfetzen.
Eine Stunde später schob sie die Dokumente zusammen.
Sie war zu keinem neuen Schluss gekommen. Mister Police Academy hatte nicht schlecht gearbeitet. Seine Anhaltspunkte ließen vielleicht auch nur diesen einen Schluss zu, dass Federico Meier seinem Leben selbst ein Ende gemacht hatte.
Man hatte ihn im alten Bärengraben tot gefunden. Die Pistole neben ihm. Als er abgedrückt hatte, lag der Lauf direkt an seiner Schläfe.
Er musste sich auf die Mauer gesetzt und dann abgedrückt haben.
Doch etwas Wichtiges hatte der neue Kollege übersehen: Die Spuren von Antidepressiva in seiner Tasche konnten auch etwas anderes bedeuten. Maria Volta schluckte solches Zeug gegen schmerzhafte Muskelverspannungen. Doch diese Medikamente gab es nur gegen Rezept, und von einem Hausarzt stand nichts im Dossier.
Außerdem ließ nichts darauf schließen, dass Federico Meier an Depressionen litt.
Der Kollege hatte die Sache rasch hinter sich gebracht. Er hatte offenbar keine Ahnung, gegen welche Leiden Antidepressiva auch eingenommen wurden. Doch das war keine Entschuldigung.
Sie schaute zu Nino hinüber.
Er brütete immer noch über seinen Papierfetzen. Er schien die Welt um sich herum vergessen zu haben. Seine erste Reaktion auf die Klärung des Falles Meier war mehr als verständlich gewesen: Da stand einer am Anfang einer sicheren Karriere, das Luxusnestchen war vorbereitet. Er musste sich nur noch hineinsetzen.
Setzt sich einer mit diesen Aussichten in einer nebligen Nacht auf die Mauer des alten Bärengrabens und erschießt sich?
Aus einer persönlichen Not heraus, hatte man in den Zeitungen gelesen, weil klare Hinweise fehlten. Welche Not war das denn? Liebeskummer? Eine lebensbedrohliche Krankheit?
War ihm die neue Position über den Kopf gewachsen?
Nein, das kam nicht infrage. Er hätte die Arbeit schmeißen können, auf der Auszahlung seines Erbes bestehen können und dann sein Leben genießen. In Saus und Braus.
Das Telefon klingelte.
Nino Zoppa rührte sich nicht. Sie erhob sich und griff nach dem Hörer.
Klaus Zinnstag war dran, der Spurensicherer. Alle nannten ihn Bruder Klaus.
»Nore, wie geht’s dir? Bastian meint, man müsse die neuen Erkenntnisse dir weiterleiten.«
Nore Brand suchte nach ihren Stiefeln. »Gibt es denn schon etwas Neues?«
»Ich war letzte Woche weg. Du weißt schon, Fortbildung und so«, er lachte. »Nicht schlimm, viel Zeit zum Durchatmen. Dabei habe ich etwas Wichtiges erfahren. Ich werde in Zukunft noch mehr Zeit zum Entspannen haben.« Sie hörte, wie er tief Luft holte. »Nore, ich werde in Zukunft total überflüssig sein. Man führt demnächst die virtuelle Tatortrekonstruktion ein. Schluss mit schauriger Polizeiromantik. Man kauft einfach 20 Kameras ein, positioniert diese richtig, beamt die Bilder weiter, und Kommissarin Brand kann urgemütlich vom Büro aus die Ermittlung vornehmen, ein Kamerateam macht sich auf die Suche nach Verdächtigen, interviewt diese, beamt das Ganze auch zu dir, und du kannst deine Arbeit ganz entspannt bei einer Tasse Kaffee erledigen.«
»Ja, vor allem derart zugebeamt, dass denken nicht mehr möglich ist.«
Bruder Klaus lachte. »Zugebeamt? Das ist gut, aber so weit sind wir zum Glück noch nicht. Also Nore, pass auf, wir haben den armen
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