Nore Brand 03 - Racheläuten
Akte zurück und dann versuche ich, ein bisschen mehr über Federico Meier herauszufinden. Über seinen Großvater. Bis später.«
Nino Zoppa schaute ihr überrascht nach.
Nore Brand verließ ihr Büro.
Beim Durchsehen der Akte hatte sie erfahren, wo Oskar Schmied, der TTC-Besitzer lebte. Er wohnte zufällig in der gleichen Seniorenresidenz wie ihr Vater.
Zwei Fliegen auf einen Schlag, dachte sie.
Sie war alles andere als eine fürsorgliche Tochter. Sie liebte ihren Vater trotzdem. Das war möglich. Beim letzten Besuch hatte er sie fragend angeschaut. »Du? Was machst du hier? Hast du etwa zu wenig zu tun?«
Ihr Vater begriff, dass man ganz in der Arbeit aufgehen konnte. Er hatte mit einem Freund ein Architekturbüro aufgebaut und dort sein Leben bis an den Rand mit Arbeit gefüllt. Er wirkte glücklich dabei. In ihrer Vorstellung sah sie ihn immer über irgendwelche Pläne gebeugt. Bleistift und Papier immer in Reichweite. Er war ein schweigender Einzelgänger.
Es war nicht lang her, dass sie etwas Wichtiges begriffen hatte: Seine Pläne waren eine Form, mit den Menschen umzugehen. Beim Planen und Skizzieren versuchte er, die Menschen und ihr Leben zu begreifen. Schritt für Schritt setzte er ihre Vorstellungen und ihre Wünsche in ein Gebäude um, in ein Haus, in eine Hülle aus Holz, Beton, Stahl und Glas.
»Schau«, eine Schnecke mit ihrem geringelten Gehäuse war im Begriff, den Pfad zu überqueren, »die hat alles bei sich. Die braucht nichts mehr. Das ist ihr ganzer Schutz. Häuser und Wohnungen dienen zum Schutz. Wir brauchen einen schützenden Raum, in den wir uns zurückziehen können. Ein Refugium. Das muss nicht groß sein, nur groß genug.«
Er hob die Schnecke auf und setzte sie auf der anderen Seite ins Gras.
»Eigentlich braucht man nicht viel. Die Natur weiß das, und ich versuche, meine Bauherren daran zu erinnern.«
Er erzählte von einem Paar, das sich an bester Lage am Aarehang ein großes Haus hatte bauen lassen. Sie waren stolz darauf. Das Haus erschien in Fachzeitschriften. Ein Vorzeigeobjekt. Die Glasfront zeigte auf den Fluss und die Bäume.
»Ein schönes Haus, ein sehr schönes Haus. Aber kaum waren die beiden eingezogen, veränderte sich das. Die Frau fühlte sich unglücklich, sie gehe in diesen Räumen verloren, klagte sie. Nur wenige Monate später zog das Ehepaar wieder aus, in eine kleine Wohnung mitten in der Stadt. Eine Wohnung muss passen, damit man sich wohlfühlt. Das ist wie mit der richtigen Kleidergröße. Zu klein ist nicht gut und zu groß auch nicht.«
Nore Brand stieg ins Tram, das sie an den Helvetiaplatz führte. Nach einem viertelstündigen Spaziergang würde sie dort sein. Sie wollte Oskar Schmied kennenlernen; dieser Mann stand am Anfang der Geschichte, die sie aufrollen musste, um das traurige Ende zu verstehen.
8 Der Großvater
Die Tür ging mit einem Ruck auf, und er stand vor ihr. Ein gebrochener Mann sah anders aus. Was hatte Bärfuss da erzählt?
Oskar Schmied trug einen grauen Dreiteiler mit dunkelblauer Krawatte. Der Schnurrbart war gepflegt, nicht gefärbt.
Nore Brand stellte sich vor.
Er trat einen Schritt zurück und musterte sie. Er nahm sich Zeit dafür. Nach einer Weile nickte er.
»Wenn’s denn sein muss, Frau Brand.« Er reichte ihr die Hand. »Viel lieber wäre mir, Sie könnten die Zeit zurückdrehen.«
Er trat über die Schwelle und zog die Tür hinter sich zu.
»Kommen Sie, wir gehen hinaus. Das Wetter ist gut heute, und ich brauche frische Luft.«
Mit langen und überraschend schnellen Schritten ging er voraus, am Lift vorbei zur Treppe.
Oskar Schmied war über 70 Jahre alt, aber er stürmte durch sein Leben, wie sie es bei jüngeren Männern nicht oft sah.
Mitten im Park der Residenz stand ein verwitterter Pavillon. Sie dachte an einen Vogelkäfig. Viel rostiges Eisen. Vielleicht etwas für Romantiker.
»Wir gehen am besten in den hässlichen Gitterkasten dort«, rief er ihr über die Schulter zu. »Der steht fast immer leer. Kein Wunder, oder? Dort können wir ungestört reden.«
Oskar Schmied konnte vielleicht auch Gedanken lesen.
»Hier bitte, setzen Sie sich.«
Er arrangierte die Stühle so, dass sie einander gegenübersaßen. Wie in einem Büro. Er kannte vermutlich nicht viel anderes. Dann setzte er sich hin und beugte sich über den Tisch.
»So. Ich muss Sie vor mir haben, ich muss Ihr Gesicht sehen können, damit ich Sie gut verstehe«, er deutete auf seine Ohren, »ich muss mich an das neue Dingsda
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