Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Störungen aufzustellen, die dann ein starker Anreiz für klinische und für Grundlagenforschung wäre. Sie sollte iterativ und selbstkorrigierend sein: Ausgangspunkt sollten im Wesentlichen die ausgedachten Kriterienkataloge des DSM-III sein, die dann aber anhand der durch sie angeregten Forschung entweder bestätigt oder geändert würden. Dieser zyklische Prozess konnte aber nie in Gang kommen, wenn das diagnostische System der Forschung ein bewegliches Ziel bot, das ständig kapriziös, angeschoben von willkürlichen Meinungen, seinen Ort wechselte.
Für mich lautete die Lektion, dass die Diagnose erst einmal ruhen musste, damit die Forschung aufholen konnte. Es hatte keinen Sinn, dauernd das Inventar der beschreibenden Psychiatrie umzubauen, um neue Diagnosen zu erfinden und die Schwelle für bestehende zu heben oder zu senken, und das einzig und allein aus den Launen der zufällig anwesenden Experten heraus. Die Methode, die für das DSM-III notwendig gewesen war, erwies sich für die überarbeitete Ausgabe als ungeeignet. Änderungen an den Diagnosen sollten wenige sein und nur in großem Abstand erfolgen, bis wir ein wesentlich tieferes Verständnis von den Ursachen der psychischen Störungen und klarere Vorstellungen hätten, wie sie am besten zu definieren und zu behandeln sind. Das DSM-III hatte aus reiner Notwendigkeit vorwiegend den Köpfen der Experten entspringen müssen und war von Bob Spitzer in »Lehrbuchsprache« übersetzt worden. Für die Zukunft galt: größere Sorgfalt und Vorsicht, strengere wissenschaftliche Maßstäbe, weniger Subjektivität und vor allem keine Änderungen um des Änderns willen.
Bis zum vollen Ausbruch der diagnostischen Inflation dauerte es noch Jahre, aber die Gefahr lag schon in der Luft. Die Einführung von Prozac und die Veröffentlichung des DSM-III -R fielen beide ins Jahr 1987, und der rasant steigende Absatz von Prozac ist zumindest zum Teil auf die sehr weit gefasste DSM -Definition von Depression (»schwere depressive Störung«) zurückzuführen. Die Botschaft war klar: Psychopharmaka boten ein gewaltiges Marktpotenzial, und die DSM -Kriterien konnten einen entscheidenden Einfluss auf den Umsatz haben. Das diagnostische System durfte sich nicht versehentlich zum Werkzeug des Pharmamarketings machen.
Die Geschichte des DSM-IV
Wenn ich gefragt werde, warum ausgerechnet ich als Leiter der Kommission für das neue DSM-IV ausersehen wurde, antworte ich gern, das sei meine Strafe für Sünden aus einem früheren Leben gewesen. Aber im Ernst: Ich weiß nicht genau, warum man mich dafür ausgesucht hat, zumal die ganze Veranstaltung bemerkenswert zwanglos vonstatten gegangen war – der ärztliche Direktor der American Psychiatric Association fragte mich, ob ich die Ernennung annähme, ich dachte einen Tag darüber nach, dann sagte ich Ja. So einfach. Kein Wirbel, kein Wettbewerb, keine Kandidatenkür, keine Gespräche, keine Überprüfung meiner Qualifikation, meiner Ziele, meiner Methoden.
Zur Veranschaulichung der sehr gegensätzliche Besetzungsmarathon, der meiner Ernennung zum Leiter des Fachbereichs Psychiatrie an der Duke University vorausging: Er dauerte vier Monate und bestand aus drei Sitzungen des Besetzungskomitees, zahlreichen Gesprächen mit dem Dekan, Unterredungen mit dem Krankenhausdirektor, dem Präsidenten der Universität, dem Finanzdirektor, den Leitern aller anderen Fachbereiche und mit etwa fünfzig Mitarbeitern der Psychiatrie. Und zuvor hatte ein Vertreter des Besetzungskomitees mindestens dreißig Leute angerufen, um sich nach mir zu erkundigen. Bevor sie mich einstellte, wusste die Duke University besser Bescheid über mich als ich selbst. Das minuziöse Überprüfungsverfahren garantierte, dass wir eine gemeinsam erarbeitete Agenda und einen Schlachtplan hätten.
Die APA hingegen nahm mich praktisch auf Treu und Glauben und hatte kaum eine Vorstellung davon, wie ich vorgehen würde. Wahrscheinlich hatten sie mich ausgesucht, weil ich an den zwei vorhergehenden DSM -Ausgaben mitgearbeitet hatte und Leiter des APA -Komitees Diagnose war; insofern eine bekannte Größe. Und es gab nicht allzu viele, die für den Job infrage kamen oder bereit dazu waren. Aber ein reguläres Besetzungsverfahren hätte gewährleistet, dass ich unter allerlei Mitbewerbern die beste Option gewesen wäre, und hätte sowohl meine Pläne als auch die Aufgabe viel klarer gemacht. Diese geradezu beiläufige Ernennung räumte mir einen viel zu großen
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