Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Beim ersten Abklärungsgespräch muss keine Diagnose gestellt werden, das spart Geld und beugt Irrtümern vor. Die zweitbeste Lösung: Kliniker halten sich bei der Diagnose zurück und begnügen sich mit dem Attribut »nicht näher bezeichnet«, das nicht so leicht mit Stigmatisierung und unnötiger Behandlung einhergeht und keine Präzision behauptet, die nicht sein kann.
Aus der Hüfte zu schießen, wie es die Krankenkassen heute fordern und die Pharmaindustrie fördert, ist das Gegenteil der Stufendiagnostik, die wie beschrieben in mehreren Schritten verläuft. Nur in akuten oder glasklaren Fällen darf bereits beim ersten Termin eine definitive Diagnose erfolgen. In allen anderen Fällen sollen die ersten Patientengespräche der Abklärung der Fakten, der Aufklärung und der abwartenden Beobachtung dienen; erst wenn der Staub sich gesetzt hat, wird eine Diagnose gestellt. Dies ist die direkteste und effizienteste Methode, um die diagnostische Inflation aufzuhalten. 18
Tabelle 3: Stufendiagnostik
Schritt 1
Abklärung der Fakten
Schritt 2
Zurechtrücken der Perspektive: Probleme werden ernst genommen, aber als normale Reaktionen auf die unvermeidlichen Belastungen des Lebens positiv umformuliert
Schritt 3
Abwartendes Beobachten ohne definitive Diagnose, die in dieser Phase nicht möglich ist, und ohne aktive Behandlung
Schritt 4
Minimale Interventionen: Aufklärung, Literaturempfehlung, computerunterstützte Selbsttherapie
Schritt 5
Kurzes Therapiegespräch
Schritt 6
Definitive Diagnose und Behandlung
Die Stufendiagnostik nutzt die unschätzbare heilende Wirkung der Kombination von Zeit, Unterstützung und Placebo. In nicht akuten Fällen sollten Erstdiagnose und -behandlung so zurückhaltend wie möglich sein, denn »nachlegen« kann man bei Bedarf immer. Kosteneffizient ist die Stufendiagnostik, weil sie die Situationen, in denen keine Behandlung erforderlich ist, herausfiltert und zwischen den einen, die von der psychiatrischen Diagnose profitieren, und den anderen, die allein gut – oder besser – zurechtkommen, klar unterscheidet. Sie ist eine Maßnahme, um die Normalität vor der Psychiatrie zu schützen und die Psychiatrie vor Überdiagnostik und Lächerlichkeit.
Weniger Getöse
Auf jede Aktion folgt eine Reaktion – die diagnostische Inflation und der Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente sind derart aus dem Ruder gelaufen, dass es höchste Zeit für eine Kehrtwende ist. Drei Kräfte könnten sie gemeinsam herbeiführen: die Berufsverbände, die Verbraucherorganisationen und die Presse. Bislang wurde keine dieser Kräfte in nennenswerter Weise zur diagnostischen Deflation herangezogen, was zum Teil daran liegt, dass alle drei schlau und systematisch von der Pharmaindustrie vereinnahmt wurden. In einer gerechten und vernünftigen Welt stünden alle drei an vorderster Front und würden die Marketinganstrengungen der Pharmabranche nicht unterstützen, sondern bekämpfen. Bisher standen sie auf der falschen Seite, aber das könnte sich rasch ändern – sie bleiben die Hoffnung der Zukunft.
Die mittelalterlichen Zünfte entstanden in zweierlei Absicht: Schutz ihrer Mitglieder vor Preiskampf durch externe Konkurrenz und Wahrung der Qualität der hergestellten Waren beziehungsweise erbrachten Leistungen. Zünfte erhielten ein Monopol unter der Bedingung, dass sie weder das Monopol noch das Vertrauen der Öffentlichkeit missbrauchten. Die modernen Berufsverbände auf medizinischem und psychiatrischem Gebiet sind Ableger der Zünfte, aber dem in sie gesetzten Vertrauen werden sie nicht mehr gerecht. Sie scheinen nur den Schutz ihrer Mitglieder und ihres Apparates im Sinn zu haben, während ihnen die Qualität ihrer Leistungen und das Wohl der Allgemeinheit kaum noch am Herzen liegen. Angesichts des massiven Medikamentenkonsums sind alle betroffenen Verbände bemerkenswert passiv geblieben, auch gegen die in jüngster Zeit grassierenden Pseudoepidemien von ADHS , Autismus, bipolarer Störung wurden keine Proteste laut. Von Neutralität kann in solchen Fällen keine Rede sein: Diese Haltung ist nichts anderes als stillschweigendes Einverständnis mit schlechter Diagnostik und unangemessener Therapie.
Jeder Berufsverband, jede Standesorganisation sollte sich moralisch verpflichtet fühlen, eine offene und informierte öffentliche Debatte über die Gesundheitspolitik speziell im Bereich der Psychiatrie zu fördern. Der Zyniker würde nun sagen, dass ihre Eigeninteressen dagegensprechen –
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