Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
nicht darauf verlassen, dass unser Gesundheitssystem automatisch funktioniert, denn es bietet eine verrückte Mischung aus guten und schlechten Optionen und ist alles andere als gut organisiert. Und es wird viel Zeit und Aufwand brauchen, um die diagnostische Inflation zu beenden; vielleicht kommt es gar nicht so weit.
Was fangen Sie nun an mit dieser Kombination aus Chance und Risiko? Ich würde sagen, der aufgeklärte Verbraucher fährt am besten. An eine etwaige Behandlung sollten Sie mit der gleichen Sorgfalt herangehen wie an den Kauf eines Autos oder Hauses oder an die Wahl der Freunde und Freundinnen oder eines Ehepartners. Die Entscheidung, eine Behandlung mit Psychopharmaka oder eine Psychotherapie zu beginnen, ist oft ein einschneidendes Erlebnis. Tun Sie es nicht beiläufig.
Und lassen Sie sich nicht davon abschrecken, dass Sie aktiv mitwirken müssen, damit Sie die richtige Behandlung bekommen. In allen anderen Bereichen Ihres Lebens sind Sie ja daran gewöhnt, als kluger Verbraucher zu agieren, der sich nicht übers Ohr hauen lässt; das Thema Therapie ist im Grunde nichts anderes. Auch in der Psychiatrie sind die Wahlmöglichkeiten enorm, wie auf allen Gebieten des modernen Lebens: Immer haben Sie die Qual der Wahl, egal, ob es um eine Kamera geht, um einen Fernseher, Haarshampoo oder irgendeine Sorte Frühstücksflocken aus den Regalmetern im Supermarkt. Das breite Spektrum der Optionen ist gut und schlecht zugleich – es bietet mehr Weizen, aber auch mehr Spreu. Nachfolgend finden Sie ein paar Tipps, wie Sie sich in dem Irrgarten von Behandlungs- (und Nichtbehandlungs-)möglichkeiten zurechtfinden können, um die für Sie beste Entscheidung zu treffen.
Zusammenarbeit mit dem Arzt, der Ärztin
Voraussetzung für die psychiatrische Diagnose ist die enge Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Ihrem Arzt. Ohne Ihre Mithilfe kann er Sie nicht diagnostizieren, denn es gibt in der Psychiatrie keine objektiven Labortests. Folgendes können Sie tun, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Erstens: Seien Sie ehrlich zu sich und dem Arzt. Über psychiatrische Symptome reden zu müssen, ist nicht angenehm, vor allem gegenüber einem Fremden, aber nur wenn Sie völlig offen sind und bereit, Ihre peinlichsten Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen zur Sprache zu bringen, ist eine akkurate Diagnose möglich. So beschämend oder schockierend sie Ihnen vorkommen mögen, seien Sie versichert: Es ist alles menschlich, und der Arzt hat schon oft ähnliche (und noch viel seltsamere und beschämendere) Schilderungen gehört. Sie können sicher sein, dass Sie sich selbst kritischer gegenüberstehen als jeder Arzt.
Der Schlüssel zur psychiatrischen Diagnose ist also die Selbstauskunft, und dafür braucht es sorgfältige und beharrliche Selbstbeobachtung. Beginnen Sie mit einem Tagebuch, in dem Sie von Tag zu Tag die auftretenden Symptome festhalten. Vermerken Sie insbesondere die Art der Symptome, die Tageszeit, zu der sie einsetzen, die Schwere, die Dauer, das Ausmaß funktioneller Beeinträchtigung, etwaigen Stress und die äußeren Umstände im Leben, die Ihren Zustand bessern beziehungsweise verschlechtern. Bemühen Sie sich um eine möglichst vollständige Aufzeichnung aller früheren Gegebenheiten, die für Ihre gegenwärtige Diagnose eine Rolle spielen könnten. Besonders wichtig ist, dass Sie sich Kopien Ihrer psychiatrischen und medizinischen Akten besorgen; das darf keine Schwierigkeiten machen, Sie haben ein Anrecht darauf. Wappnen Sie sich mit Gelassenheit und Kraft – was darin steht, könnte erschütternd und/oder unzutreffend sein. Machen Sie sich klar, dass Sie das Recht haben, inkorrekte Darstellungen korrigieren zu lassen. Meist dauert es aber, sich diese Unterlagen zu beschaffen – planen Sie deshalb genügend Zeit im Voraus ein.
Wenn frühere Krankenakten sehr umfangreich sind, ist es hilfreich, eine Liste aller psychiatrischen Medikamente, die Sie je eingenommen haben, unter Angabe der Daten, Dosierungen, Indikationen, Reaktionen und Nebenwirkungen zu führen und stets auf neuestem Stand zu halten. Legen Sie noch zwei weitere Listen an: zum einen über alle sonstigen Medikamente, die Sie einnehmen oder eingenommen haben, und zum anderen eine chronologische Liste mit Namen, Telefonnummern, Mailadressen der Psychiater und/oder Psychotherapeuten, die Sie jemals aufgesucht haben, gegebenenfalls auch der Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Es hilft Ihnen, den Überblick zu behalten, sorgt dafür,
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