Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Dosierung ist häufig so hoch bzw. so lang, dass Abhängigkeit entsteht und beim Absetzen nicht unerhebliche Entzugserscheinungen wie Angstzustände und Panikattacken auftreten, die schlimmer sind als die Beschwerden, die ursprünglich bekämpft werden sollten – in manchen Fällen schwer genug, um den Patienten lebenslang abhängig zu machen. 16 Auch ist Alprazolam häufig zusammen mit anderen Medikamenten und/oder Alkohol an iatrogener Überdosierung mit Todesfolge beteiligt. 17 In der ordnungsgemäßen medizinischen Praxis spielt es kaum eine Rolle. Im Kampf gegen den Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente wäre Alprazolam eines der ersten Opfer, doch beim gegenwärtigen Stand der Dinge gibt es noch keine Möglichkeit, solche schwarzen Schafe, die mehr schaden als nützen, vom Markt zu nehmen.
Zähmung der Ärzte
Die allermeisten Ärzte bemühen sich, Medikamente verantwortungsbewusst zu verschreiben, aber die wenigen faulen Äpfel im Korb können viel Schaden anrichten. Für den Arzneimittelmarkt sind sie dasselbe, was der Straßendealer für den illegalen Drogenmarkt ist. Durch Kontrolle und Buchprüfung sind diese »Überflieger« leicht zu identifizieren: Patientengespräche dauern bei ihnen die kürzestmögliche Minutenzahl. Sie stellen in der beschränkten Zeit, die zur Verfügung steht, die meisten psychiatrischen Diagnosen – und häufig sind es immer wieder dieselben, für die dann auch dieselben Medikamente verschrieben werden. Sie stellen die meisten Rezepte über mehrere Medikamente pro Patient mit den im Schnitt höchsten Dosierungen aus, und es ist nicht selten, dass alle ihre Patienten denselben Arzneimittelcocktail einnehmen. Wahrscheinlich berechnen sie auch am meisten für eine Konsultation, haben aber Mühe, sich an den Namen und das jeweilige Krankheitsbild eines Patienten zu erinnern. Gewissenhaft nehmen sie an den Veranstaltungen der Pharmaunternehmen teil und halten dort manchmal auch Vorträge, in denen sie das neueste Wundermittel loben. Ihre Praxis wirkt wie ein Magnet auf Pharmareferenten, die alle mit den Sprechstundenhilfen dick befreundet sind und bei jedem Besuch ein Füllhorn an Werbegeschenken und Ärztemustern ausgießen. Wahrscheinlich fährt unser Überflieger auch noch das beste Auto und wohnt im besten Haus. Ab und zu stirbt ihm ein Patient an einer Überdosis der verschriebenen Medikamente (wobei vielleicht auch Alkohol nachgeholfen hat), aber der Arzt wurde nie zur Rechenschaft gezogen, er ist eine Stütze seines Standes und von den eigenen klinischen Fähigkeiten fest überzeugt.
Das primitivste computergestützte Überwachungssystem könnte solche Überflieger (beiderlei Geschlechts) rasch ausfindig machen und ihre Handlungsweise als Verstoß gegen die angemessene ärztliche Praxis brandmarken. Die elementarste Qualitätskontrolle zwänge sie, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen, und die Maßregelung auch nur eines Ausreißers durch die ärztlichen Standesorganisationen diente als warnendes Beispiel für andere. Im Kampf gegen den Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente ist diese Maßnahme unverzichtbar, denn Medikamentencocktails sind eine schädliche, oft tödliche Mischung – gegenwärtig wird so gut wie nichts dagegen unternommen.
Zähmung des DSM
Die lockeren DSM -Kriterien, die an der diagnostischen Inflation mit schuld sind, müssen dringend gestrafft werden. Leicht wird das nicht – das Problem ist ja über einen Zeitraum von dreißig Jahren entstanden; das DSM -5 hat es lediglich verschärft. Aber Fehler lassen sich mit der Zeit korrigieren, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen. Für viele bestehenden Diagnosen müssen wir die Schwellen anheben: Damit eine bestimmte Diagnose gestellt werden kann, müssen mehr Symptome und/oder deren Bestehen über einen längeren Zeitraum und/oder eine stärkere Beeinträchtigung gegeben sein. Und neue Diagnosen dürfen nur aus zwingenden Gründen ins DSM aufgenommen werden.
Ferner muss das DSM nach und nach von seiner Verantwortung entlastet werden: Entscheidungen, beispielsweise über eine besondere schulische Fördermaßnahme, dürfen nicht mehr allein aufgrund des Vorliegens beziehungsweise Fehlens einer psychiatrischen Diagnose getroffen werden. Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit wurden nicht zu schulischen, sondern zu klinischen Zwecken definiert und taugen nicht als Kriterien für schulische Entscheidungen, zumal Lernbeeinträchtigungen bei gleicher Diagnose individuell
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