Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
dass das DSM -5 so unerhört skrupellos und unsensibel bezüglich seiner Öffentlichkeitswirkung war. Die Berichterstattung über das DSM -5 war gut informiert, ausführlich, weltweit, ausdauernd und häufig vernichtend. Erstaunlich gleichgültig gegenüber jeder Kritik seitens externer Fachleute, nahm das DSM -5 am Ende viele seiner schlimmsten Vorschläge, die in der Presse zerrissen worden waren, wieder zurück. Auch die Pharmariesen mussten mehr Schläge einstecken, nachdem sich die Exzesse des DSM -5 zunehmend bei den anfälligsten Mitgliedern der Gesellschaft bemerkbar machten – den Kindern, 19 den Senioren, 20 den Armen, den aus dem Auslandseinsatz zurückkehrenden Soldaten. Auch dem Skandal ungehemmter Polymedikation und iatrogener Überdosierung wird endlich die Aufmerksamkeit zuteil, die er verdient.
Ich hoffe auf eine Medienberichterstattung, die sich den Kräften des Marktes entgegenstellt, statt ihnen nachzueilen, die medizinische und pharmazeutische Exzesse anprangert und ihre Stimme gegen die diagnostische Inflation und Übertherapierung erhebt. 21
Können wir die diagnostische Blase zum Platzen bringen?
Kann sein, aber leicht wird es nicht. Eine monetäre Inflation ist einfach in Gang zu setzen und sehr schwer zu stoppen, und leider gilt dies auch für die diagnostische Inflation. Der Impuls, der sie ausgelöst hat und antreibt, scheint unaufhaltsam geworden zu sein, und das DSM -5 droht aus der Inflation eine Hyperinflation zu machen. Die Pharmaunternehmen werden ihren monopolistischen Würgegriff um einen lukrativen, aber angreifbaren Markt sicher nicht ohne Weiteres lockern. Die Politiker scheinen angesichts der Großzügigkeit der Pharmalobby paralysiert und noch lang nicht bereit, geeignete staatliche Kontrollmaßnahmen einzuführen. Ärzte verschreiben reflexhaft. Patienten nehmen Behauptungen leichtgläubig hin. Berufsverbände stimmen entweder schweigend zu oder blicken ratlos auf den massiven Arzneimittelkonsum. Verbraucherorganisationen wurden vereinnahmt.
Unser diagnostisches System muss vor sämtlichen kommerziellen und intellektuellen Interessenskonflikten – den Verlagserlösen der APA , dem Nettoprofit der Pharmaindustrie, den Handreichungen an Berufsverbände und Verbraucherorganisationen, der Bereitschaft der Ärzte, Zuwendungen von Pharmaunternehmen zu akzeptieren, der Anhänglichkeit der Experten gegenüber ihren Lieblingsprojekten – geschützt werden. Entweder müssen die Hausärzte von der Psychiatrie Abstand nehmen, oder sie brauchen eine entsprechende Fortbildung und genügend Zeit, um sie zu praktizieren.
Die Maßnahmen gegen die Inflation sind eigentlich ganz einfach und hätten sofort Erfolg, wenn wir nur gewillt wären, sie umzusetzen. Die eine positive Auswirkung des DSM -5 – dass inzwischen allgemein klar ist, wie wichtig eine genaue psychiatrische Diagnose ist und wie verheerend Fehldiagnosen sind – sollte der Beginn einer ausführlichen politischen Debatte über die notwendige Reform unseres Diagnostiksystems sein. Ein guter erster Schritt wäre es, einen besseren Herausgeber für das DSM zu finden. Als Nächstes müsste sich auch in den USA durchsetzen, was in der restlichen Welt selbstverständlich ist: keine Direktwerbung für Psychopharmaka! Die Politik wird sich des Themas erst annehmen, wenn die Öffentlichkeit es verlangt. Und die Öffentlichkeit wird erst aufmerksam, wenn die Medien die Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Das DSM -5 wäre weitaus schlimmer geworden, hätten die Medien nicht Druck gemacht und die APA zur Besinnung gebracht. Hoffen wir, dass nun auch auf die Pharmabranche genügend Druck ausgeübt wird und öffentliche Empörung politische Maßnahmen erzwingt. Bei der psychiatrischen Diagnose muss allein das Wohl des Patienten entscheiden, nicht das Wohl der Ärzte oder Berufsverbände, der Pharmaindustrie oder der Verbraucherorganisationen.
Machbar ist es. Werden wir es tun?
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DER KLUGE KONSUMENT
Erkenne dich selbst.
Tempel des Apollon in Delphi
Was psychische Störungen angeht, leben wir in der besten und zugleich schlimmsten Zeit. Die beste Zeit ist es deshalb, weil wir so viele erfahrene Kliniker haben und weil so viele Therapien zur Verfügung stehen; die schlechteste, weil so viele Menschen behandelt werden, die es nicht brauchen, während andere, die tatsächlich krank sind, unbehandelt bleiben, und weil so viele unerfahrene Kliniker ungenaue Diagnosen stellen und unangemessene Therapien einleiten. Wir können uns
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