Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
sehr verschieden sein können. Ebenso sollten Entscheidungen über beispielsweise Erwerbsminderungsrenten vor allem vom Ausmaß der Beeinträchtigung abhängig gemacht werden, weniger vom Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose. Und vor allem darf das DSM bei Gerichtsverfahren keine derart tragende Rolle mehr spielen.
Die psychiatrische Diagnose war einmal ein bescheidenes klinisches Hilfsmittel und hatte darüber hinaus wenig Einfluss. Seitdem sich aber der Geltungsbereich des DSM derart unverhältnismäßig ausgedehnt hat, entscheidet es häufig allein in allen möglichen Fragen, für die es oft gar nicht zuständig ist. Damit hat das diagnostische System mehr Gewicht bekommen, als ihm guttut – mit den bekannten Folgen Überdiagnostik und diagnostische Inflation.
Die psychiatrische Diagnose ist zu wichtig, um allein den Psychiatern überlassen zu werden
In den USA hatte das ganze letzte Jahrhundert hindurch die American Psychiatric Association ein Standesmonopol über die psychiatrische Diagnose, was nie so geplant war, sondern sich mehr oder weniger zufällig so ergab. Bis 1980 das DSM-III erschien, interessierte sich kaum jemand für das »diagnostische und statistische Manual«; seine Redaktion war eine Last, die sich die APA nur auflud, weil es zu unbedeutend war, als dass sich offiziellere Stellen seiner angenommen hätten. Seither hat sich die Lage radikal gewandelt – die psychiatrische Diagnose hat ungeheuer an Bedeutung gewonnen, während die Kompetenz der APA schrumpfte.
Das DSM -5 bringt nun das Fass zum Überlaufen und ist ein lauter Weckruf. Die Führungsorganisation APA hat bewiesen, dass sie zur Führung nicht in der Lage ist. Skrupellose Änderungen von Forschern, die nur ihre Lieblingstheorien anschieben wollten, wurden nicht ausreichend auf ihre Konsequenzen für die Realität geprüft; Experten auf allen möglichen Gebieten – klinische Betreuung, Epidemiologie, Gesundheitsökonomie, Forensik, Politik – wurden erst gar nicht gehört. Entscheidungen wurden vorwiegend von und für Psychiater getroffen – ungeachtet der Tatsache, dass diese nur 7 Prozent aller auf dem Gebiet psychischer Störungen Tätigen ausmachen und heutzutage nur einen Bruchteil der verkauften Psychopharmaka verschreiben. Die APA betrachtet das DSM -5 lediglich als Publikation und Einnahmequelle und ist sich ihrer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit nicht bewusst.
Die Verrücktheiten des DSM -5 sind ein klarer Beweis dafür, dass die psychiatrische Diagnose der APA über den Kopf gewachsen ist. Diese ist aber für viele Aspekte des Lebens viel zu wichtig geworden, als dass wir sie einem kleinen Berufsverband mit beschränkten Fähigkeiten und ohne Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit überlassen dürften. Psychiater werden immer einen wichtigen Bestandteil bilden, aber die APA darf nicht länger den Ton angeben: Mit ihrem Monopol auf die psychiatrische Diagnose muss es jetzt ein Ende haben.
Die nächste naheliegende Frage: Wer könnte das Feuer weitergeben, wenn sich die APA als Hüterin der Flamme disqualifiziert hat? Leider gibt es keine dafür infrage kommende Struktur – es kann ja nicht sein, dass einfach ein anderer Verband an ihre Stelle tritt und das Monopol auf die psychiatrische Diagnose übernimmt; abgesehen davon würden es die Psychologen genauso vermasseln, nur auf andere Weise. Das National Institute of Mental Health besitzt zwar Möglichkeiten, geistige Schlagkraft und moralische Autorität, aber Schwerpunkte und Fachkenntnisse seiner Mitarbeiter sind zunehmend und nahezu ausschließlich auf die Grundlagenforschung ausgerichtet; am Umgang mit praktischen klinischen Fragen hat das NIMH wenig Interesse und entsprechend wenig Erfahrung damit. Ein dort erstelltes DSM wäre die Traumliste jedes Forschers, aber ein Albtraum für Kliniker, Patienten und Politiker. Ein möglicher Kandidat wäre die WHO , aber deren Leistung bei der Erstellung eines eigenen Handbuchs psychischer Störungen war nicht gerade vertrauenerweckend. Andere Organisationen, die in die Bresche springen könnten, gibt es derzeit nicht.
Ich glaube, dass die psychiatrische Diagnose eine eigene, neue Ordnungs- und Aufsichtsstruktur braucht. Ein Vorbild wären die Arzneimittelzulassungsbehörden. Das ist nicht so absurd, wie es vielleicht scheint: Neue Diagnosen in der Psychiatrie sind potenziell weitaus gefährlicher als neue Arzneimittel, denn sie können zu massiver Übertherapie (mit allen möglichen
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