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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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die dank diagnostischer Inflation stetig wachsende Patientenschar sichert einerseits Kundschaft und andererseits Zuwendungen der Pharmabranche. Das mag teilweise zutreffen, aber ich glaube, die Probleme sitzen tiefer und sind schwerer lösbar als ein simpler finanzieller Interessenskonflikt. Gewiss, die Berufsverbände sind eigennützig, aber schlimmer ist, dass sie leider nicht sehr klug vorgehen; das zeigt das Debakel des DSM -5. Die Agenden beherrschen oft engstirnige Verbandsdebatten und Personalfragen, und der eigene Tellerrand bildet den Horizont. Was das Patientenwohl und die politischen Konsequenzen aus der diagnostischen Inflation betrifft, sind die Verbände häufig erstaunlich uninformiert und auch nicht interessiert.
    Kann sich das ändern? Ich glaube schon. Dass die engen Verbindungen zwischen Pharmaindustrie und ärztlichen Standesorganisationen aufgedeckt und angeprangert wurden, setzt die Verbände unter Druck, Beziehungen aufzulösen und sich wieder um mehr Unabhängigkeit zu bemühen. Wenn das DSM -5 etwas Gutes bewirkt hat, dann ist dies ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass der Verband zuallererst der Allgemeinheit zu dienen hat und erst dann den eigenen Mitgliedern. Wer die Qualität vernachlässigt, wird sein Monopol verlieren. Die American Psychiatric Association wird, nachdem sie mit dem DSM -5 einen weiteren Beitrag zur diagnostischen Inflation geleistet hat, in Zukunft ein gebranntes Kind sein. Vielleicht gelangt sie zur Einsicht und gibt endlich zu, dass viel zu viel diagnostiziert und zu wahllos verschrieben wird. Das DSM -5 hätte weitaus schlimmer werden können, wäre die neue APA -Führungsspitze nicht noch im letzten Moment eingeschritten. Organisationen können sich durchaus ändern, wenn die eigenen Motivationen auf das öffentliche Interesse ausgerichtet sind.
    Verbraucherorganisationen aller Art haben schon sehr viel Gutes bewirkt, so etwa für die Förderung der Psychiatrieforschung, die Verbesserung von Betreuungseinrichtungen, die Bekämpfung von Stigmatisierungen usw. Leider wurden sie auch loyale, wenngleich unwissende (und umso glaubwürdigere) Lobbyisten für den Standpunkt der Pharmaindustrie. Dies ist doppelt problematisch, denn von ihrer Natur her müssten sie über jeden Verdacht erhaben sein. Aber in den USA stammen ihre Budgets zu einem zu großen Teil von Pharmaunternehmen. In Europa ist die Lage immerhin besser: Dort machen sich in vielen Ländern Verbraucherschutzverbände gegen die exzessive Medikation stark.
    Es besteht ein weiterer, subtilerer Interessenskonflikt: Organisationen streben danach, ihre Mitgliederzahl zu erhöhen – denn je größer die Vereinigung, desto größer sind ihr politisches Gewicht und ihre Finanzkraft. Und je mehr Personen von einer bestimmten Störung betroffen sind, desto geringer wird das ihr anhaftende Stigma. In den USA hat die Interessensvertretung der Autismuspatienten Wunder gewirkt, aber ein Nebeneffekt ist, dass auf rund die Hälfte der als Autisten geltenden Personen die Diagnose gar nicht zutrifft. Im Lauf der Zeit werden sich Verbraucherorganisationen allerdings der Gefahren einer Überdiagnostik bewusst werden und die Vorteile einer hohen Mitgliederzahl gegen das mit Fehldiagnosen langfristig verbundene Risiko abwägen.
    Investigativer Journalismus ist womöglich der beste Schutz gegen den Pharmahype; allerdings ist er heutzutage nicht mehr selbstverständlich, sondern oft ein Luxus, den sich nicht alle Redaktionen leisten. Zu häufig werden einfach die Pressemitteilungen von Arzneimittelherstellern nachgebetet, und eine eingehendere Erforschung der wahren Sachverhalte, die ja immer komplexer sind, findet nicht statt. Sensationsstorys nähren die falsche Schlussfolgerung, dass neuere Erkenntnisse der Forschung den Eindruck bestätigen, alle psychischen Probleme seien Erkrankungen des Gehirns. Der Umstand, dass Pharmaunternehmen viel besser im Marketing und in der politischen Lobbyarbeit sind als in der wissenschaftlichen Forschung und sich dort auch viel stärker engagieren, fällt dabei leicht unter den Tisch. Tatsächlich hat die Pharmaindustrie schon länger nichts Neues mehr auf den Markt gebracht, und wenn hohe Geldstrafen wegen krimineller Aktivitäten verhängt werden, stehen solche Nachrichten gern auf den letzten Seiten oder gehen überhaupt unter.
    Es besteht aber Anlass zur Hoffnung. Die Medien sind sich der Risiken der psychiatrischen Diagnostik heute durchaus bewusst, was unter anderem daran liegen mag,

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