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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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Nebenwirkungen) führen, während neue Medikamente meist nichts weiter als Doppelgänger und Nachahmer vorhandener Substanzen sind. Neue Medikamente werden vor der Zulassung mit der gebotenen Sorgfalt geprüft, aber neue, potenziell gefährliche Diagnosen entlassen wir ohne vorherige gewissenhafte und unabhängige Überprüfung in die Welt. Änderungen am diagnostischen System müssen einen in jeder Hinsicht ebenso sorgfältigen und gründlichen Prüfungsprozess durchlaufen wie jedes neue Medikament.
    Aber wer soll das übernehmen? Wahrscheinlich muss dafür eine neue Struktur innerhalb des Gesundheitsministeriums geschaffen werden, die auf breiter Basis interdisziplinär ist und die klinischen Berufe mit Experten aller mit der psychischen Gesundheit befassten Bereiche des staatlichen Gesundheitswesens, ferner der Gesundheitsökonomie, der Forensik und des Erziehungswesens kombiniert. Diese neue Struktur hätte das Personal, um evidenzbasierte Auswertungen und Analysen der wissenschaftlichen Literatur vorzunehmen oder, noch besser, die Aufgabe an unabhängige, externe Personen oder Gruppen zu delegieren, die kein persönliches Interesse an den Ergebnissen haben. Entscheidungen müssen aufgrund unvoreingenommener, expliziter Nutzen-Risiko-Analysen getroffen werden, die mögliche unbeabsichtigte Konsequenzen vorwegnehmen und auch etwaige Auswirkungen auf Kosten und Verteilung von Mitteln berücksichtigen. Auch Patienten sollten dem Prüfungsteam angehören. Alles muss zeitnah veröffentlicht werden und vollkommen transparent sein. Neue Diagnosen müssen fortlaufend überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie nicht missbraucht werden und keine unbeabsichtigten negativen Konsequenzen haben.
    Änderungen dürfen nur schrittweise erfolgen. Es hat keinen Sinn, in willkürlich festgelegten Abständen das gesamte diagnostische System auf den Kopf zu stellen, wie es bisher die Regel war. Jede Diagnose sollte in bestimmten Intervallen, sobald neue Forschungserkenntnisse vorliegen, einzeln geprüft werden; Änderungen nur um des Änderns willen dürfen nicht sein. Neuerungen müssen von soliden Erkenntnissen gestützt und durch Konsens angenommen werden. In unmittelbarer Zukunft werden eher Gesundheitsbehörden als die Gehirnforschung über Änderungen am diagnostischen System entscheiden. Die neurowissenschaftliche Revolution ist zwar viel reizvoller und intellektuell anregender, aber außer im Fall von Alzheimer weit davon entfernt, Laborergebnisse als Grundlage für diagnostische Entscheidungen zu liefern.
    Stufendiagnostik: ein bombensicheres Mittel gegen die Inflation
    Alle Kliniker, die im Bereich der psychischen Gesundheit arbeiten, und alle Allgemeinärzte müssen sich eine völlig andere Herangehensweise an die psychiatrische Diagnose aneignen. Gängige Praxis ist derzeit, dass der Arzt seine Diagnose beim ersten Termin stellt, und dies meist anhand sehr unvollständiger Informationen aus einem kurzen Gespräch mit dem Patienten, der in einer der schlimmsten Phasen seines Lebens steckt (und womöglich zuvor Drogen oder andere psychotrope Substanzen eingenommen hat, die das klinische Bild zusätzlich trüben). Beim zweiten Termin ist das Erscheinungsbild oft ganz anders als beim ersten. Erst beim fünften oder sechsten Termin hat sich die Situation meist so weit stabilisiert und geklärt, dass eine akkurate Diagnose vorstellbar ist. Darüber hinaus geht es vielen Patienten inzwischen von selbst besser. Der erste Termin ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt für eine definitive Diagnose, und so sind die auf diese Weise gestellten Diagnosen auch oft falsch.
    Warum also handeln Ärzte immer wieder derart überstürzt? Warum beobachten sie nicht, forschen nach Details, warten ab, wie es sich entwickelt? Einfache Antwort: Krankenkassen zahlen für das erste Gespräch oft nur, wenn dabei eine DSM -Diagnose herauskommt. Aber was die Kasse kurzfristig einspart, kann sich langfristig als verheerende Verschwendung erweisen – und natürlich als Risiko für den Patienten. Ist eine definitive Diagnose erst einmal gestellt, beginnt in der Regel eine Therapie – die in vielen Fällen überflüssig, schädlich und teuer ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient mit weniger schweren Symptomen innerhalb weniger Wochen wiederhergestellt ist, ohne eine Diagnose und Behandlung zu benötigen, beträgt immerhin 50   Prozent.
    In vielen Ländern wird es bereits so gehandhabt, und das ist eine sehr gute Regel für die Krankenkassen:

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